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Mein Plagedämon heißt „Sehnsucht in die Ferne“

(…) Aber genug und zuviel hiervon, mein verehrter Freund, ich unterhalte sie beständig mit dem Verstande und doch liegt so manches auf meinem Herzen, was sich hinaus und an das Ihrige sehnt. O, mein Sprickmann, ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, um Ihnen nicht lächerlich zu erscheinen, denn lächerlich ist das, was ich Ihnen sagen will, wirklich, darüber kann ich mich selber nicht täuschen, ich muß mich einer dummen und seltsamen Schwäche vor Ihnen anklagen, die mir wirklich manche Stunde verbittert, aber lachen Sie nicht, ich bitte Sie noch einmahl, mein Plagedämon hat einen romantischen und geckenhaften Namen er heißt »Sehnsucht in die Ferne«.

Nein nein, Sprickmann, es ist wahrhaftig kein Spaß, Sie wissen, daß ich eigentlich keine Thörin bin, ich habe mein wunderliches verrücktes Unglück nicht aus Büchern und Kammern geholt, wie ein jeder glauben würde, aber niemand weiß es, Sie wissen es ganz allein, und es ist durch keine äußern Umstände in mich hinein gebracht, es hat immer in mir gelegen, wie ich noch ganz ganz klein war, ich war gewiß erst 4 oder 5 Jahr, denn ich hatte einen Traum, worin ich 7 Jahr zu seyn meinte, und mir wie eine große Person vorkam, da kam es mir vor als gieng ich mit meinen Eltern, Geschwistern und zwey Bekannten spatzieren, in einem Garten, der gar nicht schön war, sondern nur ein Gemüsgarten mit einer graden Allee mitten durch in der wir immer hinauf giengen, nachher wurde es wie ein Wald, aber die Allee, mitten durch, blieb, und wir giengen immer voran, das war der ganze Traum, und doch war ich den ganzen folgenden Tag hindurch, traurig, und weinte, daß ich nicht in der Allee war, und auch nie hinein kommen konnte, aber so erinnere ich mich, daß, wie meine Mutter uns eines Tages viel von ihrem Geburtsorte, und den Bergen, und den uns damals noch unbekannten Groseltern erzählte, ich eine solche Sehnsucht darnach fühlte, daß, wie sie einige Tage nachher zufällig bey Tische ihre Eltern nannte, ich in ein heftiges Schluchzen, ausbrach, so, daß ich mußte fortgebracht werden, dies war auch vor meinem siebenten Jahre, denn, als ich sieben Jahr alt war, lernte ich meine Groseltern kennen, ich schreibe Ihnen diese unbedeutenden Dinge nur, um Sie zu überzeugen, daß dieser unglückselige Hang zu allen Orten, wo ich nicht bin, und allen Dingen, die ich nicht habe, durchaus in mir selbst liegt, und durch keine äußern Dinge herein gebracht ist, auf die Weise werde ich Ihnen nicht ganz so lächerlich scheinen, mein lieber nachsichtsvoller Freund, ich denke, eine Narrheit, die uns der liebe Gott aufgelegt hat, ist doch immer nicht so schlimm, wie Eine, die wir uns selbst zugezogen haben, seit einigen Jahren hat dieser Zustand aber so zugenommen, daß ich es wirklich für eine große Plage rechnen kann, ein einziges Wort ist hinreichend, mich den ganzen Tag zu verstimmen, und leider hat meine Phantasie soviel Steckenpferde, daß eigentlich kein Tag hingeht, ohne daß Eins von Ihnen auf eine schmerzlich-süße Weise aufgeregt würde.

Ach, mein lieber lieber Vater, das Herz wird mir so leicht, wie ich an Sie schreibe und denke, haben Sie Geduld, und lassen Sie mich mein thörichtes Herz ganz vor Ihnen aufdecken, eher wird mir nicht wohl, entfernte Länder große interessante Menschen, von denen ich habe reden hören, entfernte Kunstwercke, und dergleichen mehr haben alle diese traurige Gewalt über mich, ich bin keinen Augenblick mit meinen Gedanken zu Hause, wo es mir doch so sehr wohl geht, und selbst wenn Tage lang das Gespräch auf keinen von diesen Gegenständen fällt, seh ich Sie in jedem Augenblick, wo ich nicht gezwungen bin, meine Aufmerksamkeit angestrengt auf etwas andres zu richten, vor mir vorüberziehn, und oft mit so lebhaften an Wirklichkeit grenzenden Farben und Gestalten, daß mir für meinen armen Verstand bange wird, ein Zeitungsartikel, ein noch so schlecht geschriebenes Buch, was von diesen Dingen handelt, ist im Stande mir die Thränen in die Augen zu treiben, und weiß gar jemand etwas aus der Erfahrung zu erzählen, hat er diese Länder bereißt, diese Kunstwerke gesehn, diese Menschen gekannt, an denen mein Verlangen hängt, und weiß er gar auf eine angenehme und begeisterte Art, davon zu reden, o! mein Freund, dann ist meine Ruhe und mein Gleichgewicht immer auf längere Zeit zerstört, ich kann dann mehrere Wochen an gar nichts andres denken, und wenn ich allein bin, besonders des Nachts, wo ich immer einige Stunden wach bin, so kann ich weinen wie ein Kind, und dabey glühen und rasen, wie es kaum für einen unglücklich Liebenden passen würde.

Meine Lieblingsgegenden sind, Spanien, Italien China, Amerika, Afrika da hingegen die Schweiz und Otaheite[1]Otaheite: ursprünglicher Name von Tahiti, diese Paradiese, auf mich wenig Eindruck machen, warum? das weiß ich nicht ich habe doch davon viel gelesen und viel erzählen hören, aber sie wohnen nun mahl nicht so lebendig in mir, wenn ich Ihnen nun sage, daß ich mich oft sogar nach Schauspielen sehne, die ich habe aufführen sehn und oft nach eben denjenigen, wobey ich mich am meisten gelangweilt habe, nach Büchern, die ich früherhin gelesen, und die mir oft gar nicht gefallen haben, (so habe ich z.B. in meinem ongefähr 14tem Jahre, einen schlechten Roman gelesen, den Titel weiß ich nicht mehr, aber es kam von einem Thurme darin vor, worüber ein Strom stürzt, und vorn am Titelblatt war besagter abentheuerlicher Thurm in Kupfer gestochen, das Buch hatte ich längst vergessen, aber seit längerer Zeit arbeitet es sich aus meinem Gedächtnisse hervor, und nicht die Geschichte, noch etwa die Zeit in der ich es las, sondern wirklich und ernsthaft das schäbigste verzeichnete Kupfer, worauf nichts zu sehn ist, wie der Thurm, wird mir zu einem wunderlichen Zauberbilde, und ich sehne mich oft recht lebhaft darnach es einmahl wieder zu sehn, wenn das nicht Tollheit ist, so giebts doch keine, da ich zudem das Reisen garnicht vertragen kann, da ich mich, wenn ich einmahl eine Woche vom Hause bin, aber so ungestüm dahin zurück sehne, und da auch wirklich dort alles meinen Wünschen zuvorkömmt, sagen Sie! was soll ich von mir selbst denken? und was soll ich anfangen, um meinen Unsinn loszuwerden?

Mein Sprickmann, ich fürchtete meine eigne Weichheit, wie ich anfing Ihnen meine Schwäche zu zeigen, und stattdessen bin ich über dem Schreiben ganz muthig geworden, mich dünkt, heute wollte ich meinen Feind wohl bestehn, wenn er auch einen Anfall wagen sollte, Sie können auch nicht denken, wie glücklich übrigens meine äußere Lage jetzt ist, ich besitze die Liebe meiner Aeltern Geschwister und Verwandten in einem Grade, den ich nicht verdiene, ich werde, besonders seit ich vor 3 1/2 Jahren so krank war, mit einer Zärtlichkeit und Nachsicht behandelt, daß ich wohl leicht eigensinnig und verwöhnt werden könnte, wenn ich mich nicht selbst davor fürchtete und sorgfältig hütete, dabey ist mir die Achtung vieler schätzbarer Menschen zu Theil geworden, und die Freundschaft einiger lieben lieben harmoniereichen Seelen, worunter freylich mein Sprickmann in meinem Herzen steht, wie der Mond unter den Sternen, unter den Uebrigen, möchte ich Ihnen vorzüglich die Generalin Thielemann nennen, die Frau unsers Gouverneurs, ihr Rang, und der Unterschied unserer Jahre (Sie könnte reichlich meine Mutter seyn) hielt uns lange entfernt von einander, vorzüglich da meine Mutter allen Umgang vermeidet, der sie in weitläufige Bekanntschaften und Connexionen führen könnte, wir haben wirklich beide mit schweren Hindernissen zu kämpfen gehabt, um zu einander zu kommen, ich möchte und könnte Ihnen sehr vieles Anziehende und Merkwürdige von dieser seltsamen und lieben Frau erzählen, aber das Blatt geht zu Ende, und so will ich lieber gar nichts sagen, bis zum nächsten Briefe. (…)

Leben Sie wohl, und vergessen Sie nicht, wie begierig ich auf Antwort warte,

Ihre Nette

References
1 Otaheite: ursprünglicher Name von Tahiti

1 Kommentar im Kontext dieses Briefes

  1. Ludowine von Haxthausen sagt:

    Nette … sagt alles was sie denkt, spielt uns zu Gefallen oft den ganzen Tag am Flügel, läuft einen Tag in Wind und Wetter spazieren und liegt dafür den ganzen Tag krumm zu Bett; schreibt und liest sich einen Tag blind; und darf dann wieder 3 Wochen kein Buch ansehn…
    Hülshoff, 27. März 1819 (Brief an Dorothea von Wolff-Metternich)

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