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Die Schwindsucht hat Konjunktur!

sub petito remissionis[1]lat. Mit der Bitte um Rückgabe

Den hier eingeschlossenen Brief an die Mutter, mußt die sogleich einstecken, und ihr selbst vorlesen, denn es ist mir im Ganzen immer unangenehm,  wenn meine Briefe, die doch immer nur ganz für einzelne Personen eingerichtet sind, in andere Hände kommen, wenn es auch sonst die besten und schönsten Hände von der Welt sind, und wirklich hat mich dies bis jetzt abgehalten den Brief der Grosmutter zu beantworten, da habe ich mich denn endlich entschlossen ein neues Amt zu stiften, und dich dazu bey mir selbst in Vorschlag gebracht und auch gleich erwählt, und so bist du hiermit einmahl für allemahl, unumstößlich und unabsätzlich zu meinem geheimen Vorleser ernannt, was das Fach der Briefe an die Grosmutter anbelangt, du mußt aber nicht zu stolz werden, denn daß eben du, als die jüngste, zu dieser Würde erkohren bist, daran sind deine blauen Augen nicht allein Schuld, sondern vielmehr, weil keine von den andern so viel und sicher zu Hause und bey der Mutter ist, ich werde also in Zukunft meine Briefe an dieselbe mit denen an dich zusammen schließen, hoffe jedoch, du wirst bey deinem neuen Titel das Wort »geheim« besonderst beherzigen, und bey deinen Amtsgeschäften dir nicht abmerken lassen, daß du sie von Amts wegen verrichtest, denn ich kann bey aller Weisheit doch nicht genau bestimmen, wie die Schwestern es aufnehmen würden, deshalb bitte ich dich auch, liebe Anna, diesen Brief zu verbrennen, damit er nicht vielleicht nach Jahr und Tag in andere Hände kömmt und mir noch hintennach Verdruß macht.

Nun genug hievon, ich sitze jetzt eigentlich den ganzen Tag und faullenze, denn ich darf nichts thun, wie Stricken und Klavier spielen; das erstere thu ich auch fleißig, aber mit großer Langeweile, und was das letztere anbelangt, so wird man das ewige Phantasiren doch endlich müde, wenn man nicht nach Noten spielen darf, Tielemann hat uns neulich auf seiner Harmonika vorgespielt, ich möchte das Instrument doch nicht alle Tage hören, ich habe es jetzt erst 4 oder mal gehört, zweymahl zwar wohl mehrere Stunden lang im CONCERTE, aber ich habe es auch schon beynahe satt, wenn man es lange in einem fort hört, so meint man endlich lautete beynahe wie eine ORGEL, obschon es in Wirklichkeit ganz davon verschieden ist, so gewohnt wird man den Ton, ich habe meine Künste auch daran versucht, und habe gefunden, daß es für einen, der recht bewandert auf dem Klavier ist, sehr leicht zu lernen wäre, denn ich konnte schon nach ein paar Minuten etwas darauf spielen, wie ich mir nur die Lage der Glocken gemerkt hatte, ein Profit hiebey für mich ist, daß ich so durchgebogene Finger habe, was freylich sonst eben keine von den sieben Schönheiten ist, wer die nicht, oder gar etwas krumme Finger hat, der kann die Harmonika nie lernen;

Ich wollte neulich eine Novelle schreiben, und hatte den Plan schon ganz fertig, meine Heldin trug schon zu Anfang der Geschichte den Tod und die Schwindsucht in sich, und löschte so nach und nach aus, dies ist eine gute Art die Leute todt zu kriegen, ohne daß sie brauchen den Hals zu brechen, oder an unglücklicher Liebe umzukommen, aber da bringt mir das Unglück aus der Lesebibliothek 4 Geschichten nach der Reihe in die Hand, wo in jeder die Heldin eine solche zarte überspannte Zehrungsperson ist, das ist zu viel, ich habe in meinem Leben nicht gern das Dutzend voll gemacht, in keiner Plan Hinsicht, also habe ich meinen lieben, schön durchgearbeiteten aufgegeben, mit großem Leid, und muß nun einen neuen machen, von dem ich noch nicht weiß Wo her ich ihn kriegen soll, denn die Unzahl von Novellen und kleinen Erzählungen, die seit etwa 20 Jahren heraus gekommen sind, haben allen Stoff aufgefressen, und auch noch so schlecht bearbeitet haben, wenn sie ihn so kann ihn doch nun kein anderer Mensch mehr brauchen, mit den Büchern aus der Lesebibliothek haben wir es diesen Winter auch schlecht getroffen, es wird alle Abend etwas vorgelesen, aber gewöhnlich schlafen ein paar aus und vieles haben wir halb gelesen der Gesellschaft, wieder um geschickt;

Jenny ist gestern recht getäuscht worden, sie hatte von einem gewißen Koppenrath, dem Sohn eines Buchhändlers, gehört, daß in ihrem Laden Grimms Mährchen mit Kupfern zu haben wären, sie läßt sie also in größter Eil kommen, und da waren es die göttlich gearbeiteten Märchen von Albert Grimm die die wehrenschen Kinder auch haben, und wogegen der gute Wilhelm Grimm immer so protestiren muß, weil alle Leute sie ihm in die Schuh schütten wollen, das war mahl ein Verdruß, ich behaupte, daß sie heut Nacht ganz mager davon geworden ist.

Jenny und Ludowine sind in der größten Ungeduld, weil sie nicht wissen, was Grimm von dem Buche gesagt hat, ich sage ihnen, daß würden sie vielleicht auch noch lange nicht erfahren, denn wenn Grimm auch einen langen Danksagungsbrief darüber nach Böckendorf schrieb, nicht viel gescheuter, denn so waren sie doch noch im Allgemeinen das Buch loben, würde und müßte er auf jeden Fall, und übrigens könnte er sich über das einzelne nicht aufrichtig auslassen, die einzige ächte Quelle wär August oder sonst jemand der mit ihm persönlich darüber gesprochen hätte, ich kann sie, wenn ich will, damit ärgern, denn sie wissen dies selbst recht gut, können aber doch nicht leiden, wenn ich es sage, du mußt aber nicht denken, daß ich so boshaft bin und ärgere sie oft damit, blos wenn sie gar zu guter Laune sind, und zur Verdauung durchaus etwas Galle in dem Magen nöthig haben, vielleicht geht August mahl bald nach Cassel, dann wird ja endlich ein Strahl des Trostes in diese Jammerhöhle fallen, ich muß gestehn, ich bin selbst von Herzen neugierig darauf, Jenny mahlt jetzt recht viel, und hat eben mehrere Stücke unter Händen, unter andern das Portrait von Tony ihrem Bruder, der vor einigen Wochen nach Amerika abgeschifft ist, ich glaube, es wird sehr ähnlich werden, sie selbst meint es nicht, und ich kann denken, daß wenn man ein Bild so den ganzen Tag vor Augen hat, manche Verschiedenheiten auffallen, die ein anderer nicht bemerkt, Ludowine wird eine COMPLETE Eremitin, sie macht sich so oft unsichtbar wie sie nur kann, und hält bey verschlossenen Thüren das strengste SILENTIUM, denn ich kann nie hören, ob sie auf ihrem Zimmer ist, obschon unsere Zimmer nebeneinander und zudem verbunden sind, Werner vernachläßiget das Flötenspiel durch eine Thür jetzt sehr, sondern spielt statt dessen den ganzen Tag die schmelzendsten Lieder zur Guitarre, wobey er ein Gesicht macht, wie ein arkadischer Schäfer, es ist zum todtlachen den Jungen anzusehn, er kann noch sehr wenig, und doch greift ihn seine eigene Musick schon sehr ans Herz, ich denke indeß, er wird eine gute Stimme bekommen, wenn sie nur erst durchgesungen ist, ich wollte aber doch, daß er die Flöte deshalb nicht vernachläßigte, denn vor der Guitarre habe ich nur so lange Respeckt, wie sie zur Begleitung dient, als einzelnes Instrument lohnt sie die Mühe nicht, auf der Flöte hingegen, denk ich, kann er es noch weit bringen, leb wohl, beste Anna, wenn ich kann schreibe ich heute auch noch an Dine, sonst mit der nächsten Post, das sage ihr doch, wenn sie heute vielleicht keinen Brief bekommen sollte.

deine Nette

References
1 lat. Mit der Bitte um Rückgabe
Unter der Feder: "Ledwina"
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