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Ich hab ja meine Pillen


Ich habe zwar sehr lange nicht geschrieben, liebste Mama, aber ich hoffe doch, daß du mir nicht böse bist, ich habe es wirklich nicht gekonnt, angefangene Briefe liegen genug in meinem Schreibtisch, aber ich habe sie nie in einem Stück fertig schreiben können, und wenn sie dann so‘n paar Tage alt waren, so wurden sie mir zuwider, und ich fing wieder Neue an, die auch nicht weiter kamen, du mußt nur nicht denken, liebste Mama, als ob ich besonders krank wäre, die Leute wollen behaupten, ich sähe besser aus, als da ich hieher kam, und es kömmt mir bisweilen selbst so vor, auf jeden Fall befinde ich mich seit dem Driburger Bade viel besser, was Leib- und Magenschmerzen und Uebligkeiten, womit ich sonst so oft geplagt war, anbelangt, so weiß ich fast nicht mehr wie sie thun, auch das Kopfweh hat sich sehr gelegt, nur habe ich schon so lange der Winter dauert, immer eine Trockne in den Augen, doch ganz ohne Verdunklung, wahrscheinlich ist die ewige Schnee- oder Regenluft Schuld daran, wir haben hier noch nicht einen einzigen klaren Tag gehabt, ich brauche jetzt meine alten Pillen, und es bessert sich merklich.

Die Pulver will mir der Docktor Menne ohne eine besondere Aufklärung von Forkenbeck nicht erlauben, denk mahl, er behauptet, sie wären sehr gefährlich, und es könnten mir auch die Zähne davon ausfallen, sollte vielleicht viel Merkurius[1]Merkurius: Quecksilber drin seyn? ich soll ihm einen Brief von Forkenbeck verschaffen, worin dieser bezeugt, daß ich die Pulver ohne Schaden genommen habe und ferner nehmen kann, und ihm dies zugleich beweißt, durch einen Aufsatz über meine frühere Krankheit und überhaubtige CONSTITUTION, ich habe ihm gesagt, ich wollte darüber nach Münster schreiben, aber blos damit er es nicht selbst thut, denn ich bin überzeugt der alte Forkenbeck wird wüthend, wenn er einem Landphisicus aus Brakel von seiner Kur Rechenschaft ablegen soll, da ich mich zudem hier gar auf keine Kur einlassen will, so denke ich, wir lassen die Sache einschlafen, ich habe ja meine Pillen und die helfen mir gut; ich sehe daß ich ganz abscheulich schreibe, aber ich mag nicht viel darauf sehn, und schreibe zudem so geschwind wie möglich, damit ich nicht zu lange über dem Papier hänge;

Ich will dir jetzt auch Verschiedenes von einigen Personen die ich in Driburg habe kennen lernen, schreiben, erstlich von Deckens selbst, der Obrist Decken selbst ist schon alt, 63 Jahr, groß und hat ein auffallendes, aber anfangs höchst unangenehmes Gesicht, wenn man ihn näher kennt, so gewinnen ihn die meisten Menschen sehr lieb, ich möchte ihn auch wohl leiden, aber doch nicht so sehr, er hat sehr viel Verstand, und weiß es auch, er ist ein Schriftsteller und hat schon Verschiedenes heraus gegeben, unter ändern ein Bändchen Gedichte, wovon ich auch ein EXEMPLAR habe, sie wollen aber nichts bedeuten, denn er ist gar nicht mit der Zeit fortgeschritten (…)

Es war auch ein anderer Schriftsteller zu Driburg, Herr v Knigge, Vetter des alten Knigge, dieser zu Driburg ist der berühmte Reisende durch Asien und Afrikka, er soll darüber ein herrliches gelehrtes Buch geschrieben haben, er wohnte grade neben uns, und wir waren schon längst die besten Freunde von wegen der Musick, denn im Deckenschen Saale standen Flügel, und so oft ich spielte kam er herein, hörte aufmerksam zu, und knüpfte nachher gewöhnlich ein, von seiner Seite, sehr kenntnisreiches und unterhaltendes Gespräch über die Musick an, sobald ich wußte was ich daran hatte, mußte er mir von seinen Reisen erzählen, er that es gern, und es war immer uns allen viel werth, wenn wir ihn dazu bringen konnten, seine Frau ist eine Russin, und was man ein Düttelchen nennt, seine Kinder sind alle unbedeutend, er selbst gleicht von Gesicht auf Flörchen Busch, also auch nicht angenehm.

Eine allgemeine ausgezeichnete Achtung genoß eine Frau von Sthuttnitz aus Gotha, sie ist noch jung, aber ganz CONTRACT von der Gicht, man sagt, sie soll sowohl von Gestalt als Charakter wie eine Zwillingsschwester an die selige Hofräthin Blume gleichen, sie bat mich sie oft zu besuchen und wir sind uns hoffentlich gegenseitig recht lieb geworden, sie weinte sehr, wie ich fort ging, und ich war auch sehr betäubt, denn ich sehe sie gewiß in meinem Leben nicht wieder.

Nun habe ich dir die merkwürdigsten Personen des Bades beschrieben, es waren noch viele andere da, wovon sich manches erzählen ließ, aber ich mag doch den Brief nicht damit voll kladden, nur noch eins, die Sthuttnitz ist ganz intim mit dem Dichter Werner, ich habe viele seiner Briefe an sie gelesen, sie sind alle sehr schön aber phantastisch, — von hieraus kann ich dir, liebste Mutter, nichts erzählen, es ist wie immer, Mutter hatte seit einigen Tagen etwas Seitenschmerzen aber es ist schon fast wieder besser, ich möchte ihr so gern zum Weihnachten einige geistliche Lieder machen, wenn ich nur kann.

Ich bin, wie du schon wohl weißt, mit der Schloshauer nach Neuenheerse gewesen, die Tante Felitz war anfangs sehr spitz, aber zuletzt so freundlich, daß sie nicht wußte, was sie mir zu Gefallen thun sollte, sie LOGIRTE mich zu meiner großen Angst in einem nagelneuen Zimmer, womit sie selbst noch so verwöhnt war, daß sie ihre reinen Schuh jedesmahl abputzte, wenn sie herein ging, sie sagte des Abends, wie sie mich herein führte, Laken, Kissen, Handtücher, alles wäre das Beste was sie in ihrem Vermögen hätte, du kannst denken, wie mir dabey zu Muthe war, sie läßt aufs zärtlichste grüßen, und will diesen Winter noch nach Bökendorf kommen, und im Frühjahr soll ich auf vierzehn Tage zu ihr kommen, wofür mich Gott behüte, denn ich kann es gar nicht aushalten, daß sie das Essen mit ihrem eignen Löffel vorlegt, und wenn sie mir Wein oder auch Wasser einschenkt, die BOUTEILLE zuvor vor den Mund setzt, um zu sehn ob es auch gut ist, wenn das nicht wäre, dann sollte alles noch wohl gehn.

Sag doch der guten Thielemann bitte, ich hätte oft genug an sie gedacht, und wollte schreiben, sobald ich könnte.

Ich muß aufhören, liebste Mama, die Augen brennen mir, den lieben Papa küsse ich 1000mahl auch Jenny und Ferdinand, grüß doch Onkel VICEDOMI, Onkel Max, Tante Dine, Phine, und zu Haus Herrn Wilmsen ganz besonders auch Lisette, Köchin, Kristine, Dine und alle ändern, Grosmutter läßt dir so viel Liebes und Gutes sagen, wie sie nur immer weiß und kann.

Sag Jenny doch, ob sie auch alle die Noten, die ich geliehn habe, an ihre Herrn besorgt hätte, sonst möchte sie es doch noch thun, und wenn es nur anging, möchte sie doch auch an die Abschrift von Walther denken, für die Thielemann

deine gehorsame Tochter Nette

Bökendorf, 20. Dezember (?) 1819

References
1 Merkurius: Quecksilber
Der alte Forkenbeck ist ein Arzt in Münster.
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