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Wo sind die Zeiten hin?

(…) Nun komme ich zu etwas, was mir eigentlich am meisten auf dem Herzen liegt, weshalb grade ich es bis zuletzt verschoben habe, Deine Lage nämlich. Wüßtest Du es, wieviel ich an Dich denke, wie manche Stunde ich wach in meinem Bette liege und mich über Deine Zukunft zergrübele und zersorge! Levin, mein einziges geliebtes Kind, Du bist in sehr schlimmer Umgebung. Das Herz ist mir so voll, ich möchte dir so alles auf einmahl sagen, und doch ist’s am besten, ich warte ab, wie sich die Dinge gestalten; was nutzt’s Fälle zu erörtern, die vielleicht nicht eintreten!

Aber ich fürchte, mit dem Tode der guten, wahrscheinlich totgequälten Fürstin weicht das letzte sittlich edle Bild, an dem sich eine ehrliche Seele noch aufrichten kann, aus Eurem Hause; mehr will ich für jetzt nicht sagen und Dich nur noch bitten, Ihres Sterbebettes und dessen, was sie darauf gebracht hat, nie zu vergessen und Dich fest zu Deinen Zöglingen zu halten. Es ist die ehrenvollste und in Zukunft vielleicht die einzig ehrenvolle Stellung, die Du nehmen kannst, wenn jeder voraussetzen darf, Du seist da aus Liebe zu den armen Kindern und um ihnen reel zu nützen. Ich wollte, ich könnte bey Dir sein, dann wär‘ mir nicht bange; was mir vielleicht an Klugheit abginge, würde meine Liebe und Sorge ersetzen, die Dein Bestes zehnmal schärfer im Auge hält als ihr eigenes.

Könnte ich dich um einmahl eine Stunde wieder hier haben, hinter dem Teller mit aufgesparten Birnen und Nüssen! Es ist doch ein lieber, heimlicher Ort, das Rüschhaus! Zwar klein kam es mir nach dem großen Meersburger Schlosse vor, klein wie ein Mauseloch, aber doch sehr lieb. Ich hatte es so kurz nach Dir verlassen, daß mir war, als wärst Du gestern erst fortgegangen und alles, Bücher, Papiere, noch von Deiner Hand so hingelegt, was auch mit einigem sein mochte; denn mein Zimmer ist seitdem unbewohnt geblieben und war noch nicht aufgeräumt; mein Alleinsein – Mama ist noch immer in Abbenburg – nährt diese Täuschung fortwährend.

Neulich war mir so ungewohnt wohl zumute, ich wußte selbst nicht warum, endlich merkte ich, daß es Dienstag war und ich Dich erwartete. Lieber Gott, wo sind die Zeiten hin! Ich konnte es denn doch nicht lassen, mit meinem Fernrohr zu meiner Bank zu wandern, und das Herz klopfte mir ordentlich, als ich etwas durch den Schlagbaum kommen sah; es war aber nur ein sehr schäbiger Bauer mit einem noch schäbigerem Hunde. (…)

1 Kommentar im Kontext dieses Briefes

  1. Ich muß aufhören, ich habe mich ganz in Schweiß geschrieben – o Gott, wann seh ich Sie wieder, um einmal wieder mit Ihnen alles von Anfang bis zu Ende durchschwatzen zu können, ich habe Ihnen so unendlich viel zu erzählen – es wär‘ eine wahre Wonne. O Harfen Sions, weshalb hangt Ihr nicht an den Weiden des Mondsee!
    Mondsee, 1. Mai 1843

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