Site Overlay

Wie ein halber Mord

(…) Sehr ernst und eigen gestimmt bin ich auch; denn ich habe gestern und heute bis Mittag Papiere durchgesehn und verbrannt, und damit manches Stück Vergangenheit hinter mir geworfen, was, freylich schon seit Jahren mit Gras bewachsen, doch unter dem Lesen wieder so frisch aus dem Grabe stieg, daß ich wollte, ich hätte lieber blind zu gebrannt, dann wäre es wenig gewesen – jetzt ist’s mir wie ein halber Mord. Man liest alte Briefe so selten und für seine Ruhe wohl daran, es gibt nichts Scmerzlicheres. Die Toten bekommen wieder Seele und Leib, wir müssen sie zum zweiten Male begraben, und die Lebenden älter und kälter Gewordenen sehen uns frisch und jugendarm an, berühren so hundert kleine längst vergessene Stichworte, bey denen uns doch einmahl das Herz gewaltig geklopft hat, daß wir über sie und uns weinen möchten, daß wir miteinander so ledern geworden!

Was ist aus meinen Jugendfreundinnen geworden? Die eine Hälfte ist ganz in Haus, Wirtschaft, Mann und Kindern aufgegangen, die Andere jetzt gräuliche alte Jungfern, an denen weder die Götter noch Menschen Freude haben können, und in denen nicht mehr Poesie ist wie in einer getrockneten Pflaume.

Es ist doch gut, wenn man die Leute nicht so früh kennenlernt! Das Verblühen des sowohl körperlich wie geistigen Jugenddufts ist gar zu schmerzlich mit zu erleben, und am Ende wüßte man doch mit den jungen Dingern nichts anzufangen, wenn sie wieder so neben einem ständen, und wäre weit entfernt, sich mit ihnen zu liieren; Euch drei, die ich noch habe – Sie, mein Bestes und Liebstes, Adele und Male Hassenpflug – habe ich gottlob in einer Reife kennengelernt, die lange Jahre vorhalten kann. Hoffentlich für immer, obwohl Sie eigentlich hierbey sehr zu kurz kommen können. Denn Sie sind gar jung gegen mich, und es kömmt vielleicht uns beiden eine Zeit, wo Sie selbst noch im Besitz aller Fähigkeiten, mich als eine arme bröcklichte Ruine nur mit Mitleid und Nachsicht ansehen und dabey mehr leiden werden als ich selbst. Mir ist’s mit manchem so gegangen; denn ich habe mich früher immer gerne zu älteren gehalten. Mein armer alter Sprickmann …!

Doch genug hiervon! Laßt die Zeit kommen wie den Tod! Der obendrein vielleicht früher kömmt und die ganze Jeremiade überflüssig macht; aber mir war nunmal so zumute, und gegen wen soll ich mein Herz entladen, wenn nicht gegen Sie, mein anderes Ich, oder vielmehr meine abhanden gekommene Hälfte, da Sie gerade alles haben, was mir fehlt, und was mir so wohl thut, als eine Art von Eigenthum in Ihnen an mich zu schließen. (…)

Copyright © 2024 Nach 100 Jahren. All Rights Reserved. |  by John Doe