„Deutschlands größte Dichterin“ – das ist wohl das Etikett, das am häufigsten Verwendung findet, wenn es darum geht, Annette von Droste-Hülshoff zu beschreiben. Daneben: Katholisches Adelsfräulein, westfälische Heimatdichterin, Verfasserin des Schauergedichts „Der Knabe im Moor“ und der Kriminalnovelle „Die Judenbuche“, jener beiden Werke, mit denen viele Menschen Erinnerungen an den Deutsch-Unterricht ihrer Schulzeit verbinden – und das sind nicht zwangsläufig gute Erinnerungen .
Gebildet, gefördert – und gebremst
Annette von Droste-Hülshoff wird im Januar 1797 geboren, wahrscheinlich am 10. Ganz sicher ist das Datum nicht, auch der 12. und der 14. Januar werden mitunter genannt Sie wächst mit der älteren Schwester Jenny und den beiden jüngeren Brüdern Werner-Constantin und Ferdinand auf dem Familiensitz, der Wasserburg Hülshoff auf, die damals zu Münsteraner Vorort Roxel gehörte, heute zur Gemeinde Havixbeck.
Die Eltern sorgen dafür, dass alle vier Kinder eine gute Bildung bekommen. Bei Annette zeigt sich früh ein Talent zum Erzählen, Dichten und auch zum Komponieren. Für den Hausgebrauch wird dies durchaus gern gesehen; als die bereits Vierzigjährige sich dann aber anschickt, ihre Verse in Buchform zu publizieren, reagieren die meisten Verwandten skeptisch. Eine unverheiratete Frau aus dem Adel, die eigene Werke veröffentlicht? In Schwester Jenny hat sie jedoch zeitlebens eine Verbündete. Und auch die als resolut und stets auf das äußere Ansehen bedachte Mutter Therese zeigt sich mitunter stolz auf ihre Tochter und deren Schreibtalent, kümmert sich sogar höchstpersönlich um literarische Mentoren.
1826 stirbt unerwartet der Vater, Clemens-August, an dem Annette sehr hängt; ein Feingeist, belesen, musikalisch, mit Liebe zur Zoologie und Botanik. Der Tochter galt er als Seelenverwandter.
Mit Mutter und Schwester siedelt sie ins etwa fünf Kilometer entfernte Haus Rüschhaus über, den nur ein Jahr zuvor erworbenen Witwensitz. Bruder Werner übernimmt als zwar nicht ältestes Kind, aber als erstgeborener Sohn Burg Hülshoff. Annettes Leibrente ist nicht üppig, reicht aber zum Leben und gibt Annette von Droste immerhin die Freiheit, sich weiterhin jenseits finanzieller Nöte dem Schreiben widmen zu können.
Und das tut sie: Zahlreiche Gedichte, Balladen, ein Trauerspiel, eine Komödie entstehen, obgleich einige Prosastücke Fragment bleiben. Nicht so die Kriminalgeschichte, die auf einer wahren Begebenheit beruht und als Fortsetzungsgeschichte im “Morgenblatt für gebildete Stände“ erscheint: „Die Judenbuche“. Lyrische Werke werden in mehreren Zeitungen abgedruckt, darunter die Kölnische Zeitung – eine Zusammenarbeit, die Bruder Werner seiner Schwester mit Hinweis auf die liberale Haltung dieser Zeitung nachgerade verbietet. Sie gehorcht.
Halbanonym erscheint 1838 der erste Band mit Gedichten. Doch ihr zweites Buch erscheint 1844 unter vollem Namen. Für ihre Publikationsprojekte findet die Autorin Unterstützung vor allem im Freundeskreis, von Menschen wie Levin Schücking, Adele Schopenhauer, Christoph B. Schlüter.
Das Klischee von der „männlichen Dichterin“
„Die Droste schreibt wie ein Mann“ – darin sind sich die Literaturkritiker der Restaurationszeit einig. Die ausdrucksstarke Poesie der Dichterin passt nicht in das Klischee, das die literarische Öffentlichkeit ihrer Zeit für Schriftstellerinnen vorsieht und das auch Annette von Droste selbst verinnerlicht hat.
Die Sehnsucht nach Freiheit und Abenteuer, das große Fernweh, das Streben nach einem selbst- bestimmten Leben – die Briefe beweisen, dass sie all das aus eigenem Erleben kennt. In ihren Gedichten aber ist es stets verknüpft mit einer männlichen Figur – mit dem Bruder Ferdinand in „Bertha“, mit dem Jäger und dem Soldaten in „Am Turme“. Die männliche Identität scheint unverzichtbare Voraussetzung, um die angesprochenen Wünsche zu verwirklichen. Als einzige Konsequenz bleibt daher die Resignation. Denn dass eine Frau ihre Freiheitsbestrebungen realisiert, ist auch für Annette Droste unvorstellbar, passt nicht in ihr Weltbild.
Annette von Droste entspicht auf den ersten Blick in vielerlei Hinsicht dem Frauenideal ihrer Zeit. Als Mitglied des westfälischen Adels hat sie die konservativen Wertmaßstäbe, mit denen sie erzogen wurde, schon in jungen Jahren verinnerlicht. Sie versucht stets, den weiblichen Tugenden der Restaurationszeit – wie Bescheidenheit, Gehorsam, Demut – zu entsprechen, auch wenn ihr dies oft schwerfällt. Sie akzeptiert die Definitionen ihrer Zeit von „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“. Sie überlässt die Verhandlungen mit ihren Verlegern einem männlichen Freund und empfindet Rezensionen als weniger wertvoll, wenn sie von einer Frau verfasst wurden.
Doch es gab auch immer wieder Ausbruchsversuche aus den Abhängigkeitsstrukturen, in denen Droste-Hülshoff sich bewegen muss. Einige wenige Male wehrt sie sich gegen die mütterliche Bevormundung. Mühsam schafft sie sich einen kleinen Freiraum; zäh und unnachgiebig setzt sie im Laufe der Jahre durch, dass man sie – die ehelose Dichterin, die mit häuslicher Arbeit nichts anzufangen weiß – akzeptiert, wie sie ist.
Annette von Droste, urteilt Wolfgang Poeplau, „fand nie die Kraft, […] selber ihres Glückes Schmied zu sein. Ihre Auflehnung gegen das Schicksal war immer nur ein dichterischer Kampf“. Monika Salmen konstatiert eine „Diskrepanz zwischen Leben und Werk“; Annette von Droste habe sich nur in ihrer Dichtung, nicht aber im Leben einen Freiraum verschafft.
Ich finde: Das greift zu kurz.
Eigenständiger, als es den Anschein hat
Betrachtet man die Familienbriefe, in denen sie sich fast durchweg als angepasstes Adelsfräulein präsentiert, so überrascht es fast, gegen wieviele Normen die Dichterin in ihrem alltäglichen Leben tatsächlich verstößt. Ihre umfassende Bildung geht weit über das übliche Maß auch adliger Frauen hinaus. In einer Zeit, in der die Ehe als selbstverständlicher Lebensweg jeder Frau angesehen wird, bleibt Annette von Droste unverheiratet. Gegen enorme Widerstände betätigt sie sich literarisch und wagt sogar den Schritt in die Öffentlichkeit, was zu ihrer Zeit und in ihrem Kreis sowohl gegen ständische wie gegen patriarchale Normen verstößt. Entgegen der später oft vertretenen Auffassung, Droste sei am politischen Tagesgeschehen nicht interessiert gewesen, bezieht sie sehr wohl Position: In Briefen äußert sie mehrfach unmissverständlich ihre ablehnende Haltung gegenüber der liberalen Bewegung und deren „Rhetorik und Demagogie“ – sie nimmt demnach durchaus Anteil an den gesellschaftlichen und politischen Veränderungen ihrer Zeit.
Obwohl Annette von Droste-Hülshoff also in zentralen Bereichen ihres Lebens nicht den Erwartungen der Restaurationsgesellschaft entspricht, wird lange in der Sekundärliteratur zumeist die äußere Anpassung der Dichterin besonders betont und ihren Werken – als angeblich einzig sichtbarem Ausdruck ihrer Unabhängigkeitsbestrebungen – gegenübergestellt.
Tatsächlich finden sich sowohl im Leben als auch auch in den literarischen Arbeiten Belege für einen emanzipierten Freiheitsdrang. Dabei wirkt Annette Droste als junge Frau trotziger und kämpferischer, als in ihrem letzten Lebensjahrzehnt. In den frühen Arbeiten lässt sich ihr Schwanken zwischen empörter Auflehnung und schlechtem Gewissen, den Pflichten nicht zu genügen, deutlich ablesen. Auch in diesen Werken klingt schon die Resignation an, die in den Gedichten der Vierzig- bis Fünfzigjährigen, dem „Tagebuch ihres inneren Lebens“, bestimmend wird.
Droste und der Feminismus
Der beginnenden Frauenbewegung mit ihren Forderungen nach Gleichberechtigung stand Droste skeptisch gegenüber. Ihre Bestrebungen zielten eher auf individuelle Selbständigkeit, auf Unabhängigkeit von einem Mann und (was den Bereich der Dichtung anging) von der Familie, und weniger auf die allgemeine Verbesserung der Lage der Frauen. Annette von Droste war keine frühe Feministin. Dennoch gibt es Anzeichen für weibliche Solidarität, wenn man die rege Anteilnahme und zum Teil tatkräftige Unterstützung bei literarischen Projekten betrachtet, die sie, ihre Freundinnen und ihre Schwester sich gegenseitig gewährten. Annette von Droste ermutigte Frauen wiederholt, sich literarisch zu äußern – und schränkte dieses Recht zugleich im Rahmen ihrer konservativen Grundwerte ein.
Eine frauenspezifische Sicht auf Leben und Werk Annettes von Droste fördert eine neue, eine „dritte“ Position zutage. Jenseits der Entgegensetzung von leisen, sentimentalen Dichterinnen auf der einen und lautstark fordernden, emanzipierten Autorinnen des Vormärz auf der anderen Seite, bewegte sich Annette von Droste-Hülshoff auf einem – konfliktreichen – Mittelweg. Eine ausgewogene Literaturgeschichtsschreibung sollte diese Vielschichtigkeit ihres Wesens akzeptieren, statt Annette Droste einseitig zu vereinnahmen – weder im Sinne der braven, frommen, konservativen Biedermeierdichterin noch als kämpferische, feministische „Schwester“.
Annette von Droste-Hülshoff, die zeitlebens eine angeschlagene Gesundheit hat – wohl eine Folge ihrer zu frühen Geburt – stirbt mit nur 51 Jahren am 24. Mai 1848 in Meersburg am Bodensee, wo sie gerade zu Besuch bei ihrer Schwester Jenny und deren Familie ist.