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Dürfte ich jetzt schreiben!

(…) Ich bin jetzt eigentlich hergestellt, aber noch ungeheuer schwach und reizbar, kann noch keine drey Seiten nacheinander lesen, und dieser ist mein erster Brief, an dem ich gewiß schon 14 Tage lang schreibe — Sehn Sie, Lies, daß ich doch immer mehr für Sie tue, als für jeden andern? Aber es ist auch ein miserabler Brief! ein bloßes Krankheitsbulletin! Ich habe gedacht, das Lies hat mich lieb, ängstigt sich um mich, und für dieses Mal sind ihr genaue Nachrichten mit zuletzt beruhigendem Schlüsse lieber als die schönsten Literaria.

Übrigens kommen mir dergleichen auch weder zu Ohren noch Gesicht. Lesen darf ich ja noch nicht, habe seit meiner Ankunft (2. Oktober) mein Zimmer nicht verlassen und nehme außer der Salm durchaus keinen Besuch an. Dennoch habe ich Gesellschaft genug in meiner Spiegeley[1] Spiegelei: Droste nennt so ihre Wohnräume auf der Meersburg – nach dem früheren Bewohner, dem Gefangenenwärter Spiegel. Laßberg kömmt jeden Nachmittag auf eine Stunde, und Mama und Jenny bringen regelmäßig die Abende bey mir zu. Dann wird aber alles Aufregende im Gespräche vermieden, und ich höre, auf einen großen Lehnsessel an der Schattenseite des Ofens gekauert, ganz behaglich an, was von Tagesbegebenheiten, kleinen Abentheuern auf Spaziergängen et cet. vorgebracht wird.

Ueberhaubt langweile ich mich gar nicht; meine Phantasie arbeitet nur zu sehr, und ich muß aus allen Kräften dagegen ankämpfen. Jede etwas unebene Stelle an der Wand, ja, jede Falte im Kissen bildet sich mir gleich zu mitunter recht schönen Gruppen aus, und jedes zufällig gesprochene etwas ungewöhnliche Wort steht gleich als Titel eines Romans oder einer Novelle vor mir, mit allen Hauptmomenten der Begebenheit. Sie sehn, wie überreizt ich noch bin. Gott! dürfte ich jetzt schreiben (d. h. dictiren), wie leicht würde es mir werden! Aber wie bald würde ich auch wieder alle Viere von mir strecken!

Meine Spiegeley ist ganz reizend, heizt sich vortrefflich, fasst jeden Sonnenblick auf und ist durch den Widerschein des Sees selbst in den trübsten Tagen immer hell. Dazu vor mir auf dem Tische immer ein paar Töpfe in voller Blüte aus dem Treibhause. Wenn ich aufstehe, der immer lebendige, oft himmlisch beleuchtete See mit seinen Fahrzeugen und die Alpen. Ich spüre auch gar nichts vom Winter und freue mich deshalb auch gar Sicht auf den Frühling mit seinem garstigen Äquinoktium[2]Äquinoktium: Tag- und Nachtgleiche, was mich immer krank macht, um so weniger, da ich doch vor dem Eintritt beständiger Sommerwärme (etwa um das Ende Mais oder anfangs Juni) das Zimmer nicht verlassen soll.

Lieb Herz, ich habe eben Ihren Brief durchsehn, und will beantworten soweit meine Wissenschaft reicht … [zehn Zeilen von fremder Hand unleserlich gemacht]

References
1 Spiegelei: Droste nennt so ihre Wohnräume auf der Meersburg – nach dem früheren Bewohner, dem Gefangenenwärter Spiegel
2 Äquinoktium: Tag- und Nachtgleiche

Kommentare im Kontext dieses Briefes

  1. Joseph von Laßberg sagt:

    Meine Schwägerin Nette, die in sehr zerfallenen Gesundheitsumständen letzten Herbst zu uns kam, geneset allmählich, und es wird nur noch von ihrem diätischen Verhalten abhängen, dass sie wieder gänzlich hergestellt werde.
    An Friedrich Karl Freiherr von Brenken, 6. Mai 1847

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