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Ich werde leider täglich mehr zur Fledermaus

(…) Mir ist wieder ganz miserabel gewesen, sonst hätte ich deinen lieben herzlichen Brief längst beantwortet, meine alte Billa. Jetzt hat sich mir der Krankheitsstoff wieder auf den Kopf geworfen, der mir den ganzen Tag summt und siedet wie eine Teemaschine – Ohr, Zahn, Gesichtsschmerz – ich möchte mich zuweilen, wie jener Halbgeköpfte (Kindermärchen von Grimm), bey den Haaren nehmen und mein weises Haupt in den Fischteich unter meinem Fenster werfen, wo es ihm wenigstens kühl werden würde. Erwarte also nur konfuses Zeug in diesem Briefe, denn ich bin halb simpel vor Duseligkeit, und muß bey jeder dritten Zeile aufspringen, um das Blut sinken zu lassen.

Heute ist’s doch besser wie seit vier Wochen, und Du magst nur denken, daß ich Dich lieb habe, sonst brächten mich noch keine zehn Pferde zum Schreiben. O Gott, wie wohl thut so ein Moment der Linderung! Und doch riskiere ich ihn gleich an Dich, eine Größe der Liebe, die nur von gleichfühlenden Ohren – respektive Zähnen – gewürdigt werden kann.

Hier würde es mir sonst recht gut gehn, alles ist freundlich, Gegend, Haus, Wetter und Menschen. Haben wir kein Siebengebirge, so haben wir doch sehr anmutige Hügel mit prächtigen Steinbrüchen, wo ich heraushämmern könnte, was mein Herz nur verlangt, und statt eigentlicher Parks doch wenigstens hübsche Spazierwege durch Laub- und Nadelholz, und einige sogar imposante Baumhallen, wo ich sehr gern arbeiten möchte, aber ich bin die arme Seele im Fegefeuer, die aus ihrem Fensterloche alle Welt in Abrahams Schoße sieht, und dabey nur an „einen Tropfen für ihre glühende Wange“ denkt.

Den 11ten. Du siehst, mein gut Herz, daß meine Entschuldigungen keine leere Spreu sind; ich habe wieder sechs gezwungene Rasttage ohne Rast machen müssen. Aber genug hiervon, Zahnschmerzen hat ein jeder gehabt, und kann sie sich ohne Beschreibung hinlänglich vorstellen. (…)

Was Du mir von Deinen Verhältnissen schreibst, alte Billa, hat mich betrübt und sehr gerührt. Ach, das Mein und Dein! Es ist doch wirklich ein Scheidewasser, was alles in der Welt zersetzt! Ich hoffe, dieser Brief findet alles besser wie der Deinige es verlassen hat, jedenfalls bist Du rein aus dem Geschäftsklamme hervorgegangen, denn Deine Vorschläge waren doch gewiß großmütig genug! Und ich habe Dich dafür in Gedanken so fest an mich gedrückt, wie Du es in der Wirklichkeit schwerlich würdest gelitten haben, Du noli me tangere!

Gutes Herz, wärst Du hier, es wäre doch, trotz allen Schmerzen, charmant in Abbenburg. Ich habe hier ein nettes heitres Quartier, unter den Fenstern eine hübsche Blumenterrasse mit Springbrunnen, und allerlei reizende Plätzchen in der nächsten Umgebung, —z. B. gleich vor mir einen Eichwald, mit großem Teiche und Insel darin, wo eine gewaltige Linde ihre Zweige fast auf den Boden senkt, und es sich auf den Sitzen gar anmutig über dem Wasser träumen läßt; dann noch eine andre, etwas entferntere Anlage, die sehr gut unterhalten, aber von niemanden besucht wird, da wäre alles unser Eigen, Baumhallen, Sitze, das hübsche Zelt, bloß für uns Zweie, um es nach Belieben mit den Bildern unsrer Liebsten zu bevölkern, oder zu einer Robinsons-Einsamkeit zu machen.

Ich werde leider täglich mehr zur Fledermaus, zwischen Licht und Dämmerung, das ist meine rechte Zeit, und übrigens allein oder zu zweien, was darüber, ist vom Übel, und ich möchte immer, wie ein travestierter Hamlet, sagen: „Träumen, Träumen! Vielleicht auch Schlafen!“ In dem Letzteren bin ich aber viel mäßiger geworden; wie meine Nerven denn überall sich bedeutend stärken, oder vielmehr, seit sie sich in die Ihren und Zähne verkrochen haben, das Übrige freier lassen.

Seit zwei Tagen bin ich ganz allein in Abbenburg, Mama ist in Wehrden bey der Metternich, und übermorgen muß ich auch hin. „Hier laß einen Seufzer fahren, und wenn du kannst, noch einen“, sagt Abraham a Santa Clara. Ich bin nicht gern in Wehrden. Alles ist mir zu ruschlig dort, und vollends die Tante selbst ein wahrer Ameishaufen, alles Leben und Verwirrung, Handlungen, Worte, und wie es mit den Gedanken aussieht, das mag ich den meinigen gar nicht zumuten zu untersuchen, du würdest sie gradeswegs für verrückt erklären, und doch ist’s nur eine tolle Phantasie in einem sehr schwachen Kopfe, die vor fünfzig Jahren den letzten Zügel zerrissen hat und seitdem en carrière durchgeht.

Mama leidet noch immer an ihrem Herzklopfen. Wäre sie hier, Du bekämst Grüße, so schön, wie sie sie selten verschickt. Du hast einen ungeheuren Felsen bey ihr im Brette. Dann steht Adele noch sehr gut, auch die Rüdiger – et voila tout. Im ganzen habe ich Unglück mit meinen Freunden und muß mich oft sehr abäschern, bittre Pillen zu vergülden, oder vielmehr Eispillen, denn anzüglich wird mein Mütterchen freylich nie, aber unser Geschmack läuft in der Regel auseinander wie ein Gabelzweig. Nun Gottlob, daß ich Euch drei wenigstens frei lieb haben darf! Mein guter Blinder läuft auch noch so halbwegs mit durch, und um die andern ist’s mir nicht so viel.

Alte Billa, weißt Du, wie lange wir uns schon lieb haben? Im Herbste werden es achtzehn Jahre, und ich darf schon eine ehrwürdige Anciennität in Anspruch nehmen. Vergiß das nicht zwischen deinen Schwarzaugen, deren Freundschaft kaum trocken hinter den Ohren ist. In sieben Jahren können wir unsre silberne Hochzeit feiern. Mit silbernen Haaren? Ich nicht, ich bin blond, „ewig jung und ewig schön!“, ein geborner Schimmel, aber Du, schwarzer Rappe, magst Dich nur tüchtig aufheitern, wenn Du nicht endlich wenigstens ein Scheck werden willst!

Ach! ich schreibe dummes Zeug, und wozu bist du anders da als um es zu lesen? Wozu hat man Freunde, als um ihnen aufzutischen, womit man andern Leuten nicht kommen darf? Also, mein kleiner schwarzer Araber, wir wollen die sieben Jahre richtig ableben und – wenn’s gelingt – noch fünfundzwanzig dazu, bis zur goldnen Hochzeit, um alles nachzuholen, was wir uns in den achtzehn Jahren mitunter haben ab Händen kommen lassen, allen Mitschmerz, alle Mitfreude, nicht wahr, mein gut Herz? Ich wollte, wir hätten jetzt wieder ein paar von den Bonner Wochen, die wir so schändlich verschleudert haben.

Adie, lieb Kind, schreib bald, und sag‘ mir doch auch etwas von Adelen, Ich will ihr zwar selbst in den nächsten Tagen schreiben, aber da sie mit mir auf derselben langen Bank zu liegen pflegt, erwarte ich durch Dich schnellere Nachrichten als direkt von ihr. Will das Übel noch immer nicht weichen? Mir wird doch todangst bey der Sache! Was sagt Wolf jetzt? Und ist’s möglich, daß die Knoten so sitzen bleiben können ohne Verschlimmerung? bitte, sag‘ mir Alles was Du weißt, Gutes und Schlimmes. Ich muß mich weit mehr abängsten, wenn ich nicht weiß wie es steht.

[am oberen Rand der ersten Seite] Levin Schücking ist verlobt, mit Fräulein Luise von Gall, in Darmstadt, die ganz hübsche Novellen ins Morgenblatt schreibt – weißt du etwas von ihr, so teile es mir doch mit, ich weiß nichts.

Zwischen Sibylle Mertens und ihren Kindern tobt nach dem Tod von Louis Mertens eine Auseinandersetzung ums Erbe. Sie hat zu wenig Barvermögen, um die Kinder, die ihr Erbteil einfordern, auszuzahlen. Der gerichtlich geführte Streit wird sich bis ins Jahr 1849 ziehen.
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