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Ich glaubte jeden Tag zu sterben

Es ist mir sehr drückend gewesen, Ihnen, liebes Kind, so lange nicht schreiben zu können; aber ich bin seit zwei Monaten sehr krank. Im März höchst elend, so daß ich jeden Tag zu sterben glaubte. Man hat mich hierher gebracht, um immer unter den Augen des Arztes zu sein, und jetzt ist es seit zehn Tagen bedeutend besser.

Was mir fehlt? Ich habe es für Schwindsucht gehalten; es sollen aber nur innere Nervenkrämpfe sein, und jetzt scheint es auch so, da ich mich so plötzlich und rasch bessere, und bey weitem weder so kraftlos noch mager geworden bin, wie zwei Monate unausgesetzten Leidens ohne Nachtruhe und fast ohne Nahrung dies voraus setzen ließen. Noch am Tage vor der glücklichen Wendung konnte ich vor Schwäche das Glas mit Haferschleim kaum halten, und am folgenden Morgen, nach ein paar Stunden gesunden Schlafes und mit einigem Appetite genommener Bouillon und Semmel, bin ich auf Wunsch des Arztes gleich in die – sehr warme – Luft gegangen, und zwar fast eine halbe Stunde weit, ohne sonderliche Anstrengung, was außer dem Arzte allen ein halbes Wunder schien und mir am meisten.

Ganz so gut hat sich’s nun zwar nicht gehalten; ich bekomme fortwährend Rückfälle, die aber nur Stunden währen, und die ich im Vergleich mit dem Früheren kaum beachte. Gesund bin ich noch lange, lange nicht, huste noch sehr, habe immer Halsweh, jeden Abend noch Fiebermahnungen, und mit Schlaf und Appetit gehts auch nicht über das Notdürftigste hinaus; dennoch fühle ich mich gegen früher wie im Himmel und sehe an der unverhohlenen Freude des Arztes, daß ich wirklich auf entschiedener Besserung bin.

In Rüschhaus hätte ich mich nie erholt; denn unser armes Mariechen wird sterben, an Skrofeln in der Lunge, die jetzt ausbrechen, und da das gute Ding, die, wie alle wirklich Schwindsüchtigen, nicht im geringsten apprehensiv ist, sich nicht abhalten ließ, sich täglich einigemal zu mir herauf zu quälen, um mich mit der Ähnlichkeit unsrer Zustände zu trösten, so können Sie denken, wie dies auf mich wirkte.

Menschen mochte ich gar nicht sehn außer wenigen, und diese grade konnte ich nicht haben: Junkmann war nicht da, Schlüters kamen nicht, und auch mein bester Trost, meine liebste Elise, konnte nicht kommen, da sie selbst in großer Not steckte mit dem Tantchen, die schwer bey ihr erkrankt war und sie kaum eine Stunde von sich lassen mochte. Das ging mir denn auch sehr nah; hatte ich keine Nachrichten, so war ich voll Unruhe, und die ich bekam, konnten mich leider selten trösten.

Hier hat mich nun freylich in dieser Beziehung ein harter Schlag erwartet; während ich dieses schreibe, wird der Körper, den eine so reine, milde Seele bewohnt hat, der Erde wiedergegeben; am Freitagabend um neun hat sie vollendet, an der Wassersucht und zuletzt hinzugetretenem Lungenschlage; Elise ist überaus betrübt, aber gefaßt. … Ich bin sehr froh, grade jetzt hier zu sein. … Daß ich zu ihrer Aufrichtung tun werde, was meine armseligen Kräfte gestatten, und vielleicht noch etwas drüber, brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Elise ist mein zweites Ich.

Lieber Levin, Sie werden sich natürlich jetzt sehr geneigt fühlen, Elisen zu schreiben; tun Sie es nicht, ich bitte dringend darum; sie erwartet es nicht, wie sie mir selbst gesagt hat, da sie ja eben einen Brief von Ihnen erhalten, und Ruhe, Ruhe, Entfernung jeder Nervenaufregung ist ihr jetzt das einzig, aber streng Nötige. Ich habe ihr immer, wie Sie es ja selbst wünschten, Ihre Briefe an mich mitgeteilt; kein inniges oder ehrendes Wort, deren allzeit ja so viele für sie darin verstreut waren, ist je verloren gegangen, und wo die Ausdrücke schwankend waren, ist Ihr Mütterchen ehrlich genug gewesen, nach all der Wärme, aus der sie sie hervorgegangen wußte, auszulegen und aus unsern Meersburger Gesprächen zu ergänzen. So ist Elise immer Ihrer allertiefsten Anhänglichkeit gewiß gewesen; aber es ist besser, sie trägt diese Überzeugung ruhig und wohltuend in ihrem Innern, als daß sie durch Briefe aufgeregt wird, jetzt, wo wir alle uns nur absorgen, sie im möglichst ruhigen Gleise zu erhalten, damit ihre nach so langem Wachen und Sorgen unvermeidliche Nervenreizbarkeit sich nicht als Nervenschwäche festsetzt.

Zum Überfluß habe ich Elisen noch gesagt, daß ich Sie dringend bitten würde, ihr vorläufig nicht zu schreiben, und sie ist ganz mit mir einverstanden gewesen, so wie sie sich überhaubt jetzt vor jedem etwas ungewöhnlichen Briefe fürchtet, weil sie weiß, wie schlecht er ihr bekömmt. Legen Sie ihr dieses ja nicht als Mangel an Teilnahme aus; Elise ist Ihnen mit so warmer und inniger Freundschaft zugetan, daß Ihr Mütterchen sich hierin nicht mal den Platz über sie anzumaßen wagt.

Sie hat meine Sorge geteilt, daß in jenem Sodoma und Gomorrha irgend eine ränkevolle Person unter erborgter Tugendglorie Eingang in Ihre arglose Teilnahme finden und Sie betrügen möchte – ein Gedanke, der Ihnen, der Sie jede einzeln kennen und verachten, vielleicht empörend scheint; Sie müssen aber bedenken, daß wir, so lange die Fürstin lebte, uns doch auch einen anständigen Kreis, wenigstens von Besuchenden, um diese ehrenhafte Frau denken mußten, und doch schien uns – eigentlich recht weiblich inkonsequent – in einem solchen Hause könne alles nur Lug und Trug und zu Ihrem Verderben sein.

Elise hat auch zuerst Ihnen die Gall bestimmt und die Andeutungen eines steigenden Interesses in Ihren Briefen mit der wärmsten Teilnahme verfolgt; Ihr endliches bestimmtes Aussprechen dieses Verhältnisses ist uns beiden zu gleicher Beruhigung und Freude gewesen. Ich war schon krank, meinte aber doch zur gewöhnlichen Zeit antworten zu können, und Elise schickte mir in der warmen Teilnahme ihres Herzens ein Briefchen zum Einschluß; ich wurde aber von Tag zu Tag elender, konnte nicht mal die empfangenen Briefe ohne Verschlimmerung lesen, um so weniger selbst welche schreiben. Ach, Levin, ich habe schrecklich ausgestanden und oft gemeint, es ging über meine Kräfte; auch jetzt schreibe ich schon den dritten Tag über diesen paar Zeilen, aber es geht doch, und mir wird nicht schlimmer darnach.

Liebes Kind, wie ich diesen Brief anfing, glaubte ich Elisens freylich etwas alt gewordene Zuschrift vor mir in der Lade zu haben und entdecke nun mit Schrecken, daß ich ein anderes gleich geformtes Briefchen an mich selbst dafür mitgenommen. Was ist zu machen! Den Schlüssel zu meinem Schreibtische kann ich unmöglich hergeben; Sie müssen sich gedulden, bis ich wieder in Rüschhaus bin, wo ich Ihnen das Blatt jedenfalls schicken werde, wenn es auch steinalt geworden ist. Elise, der ich meine Not geklagt, sagt, ich möge Ihnen schreiben, der Hauptinhalt sei gewesen, daß sie Ihnen ihre Freude über jene nach ihrer Ansicht sehr passende Wahl ausgedrückt und Sie angetrieben, die Gall jetzt möglichst bald persönlich kennenzulernen …

Von der Bornstedt wissen wir nur, daß es ihr wahrscheinlich kläglich geht. Ihre Briefe von Paris waren brillant; sie paradierte in der Hautevolée, in von der Gräfin geborgter Garderobe, rotem Samt und Brillanten, badete sich in Eau de Cologne und gab sich selbst als von den ersten literarischen Notabilitäten auf Händen getragen an. Balzac habe behauptet, nachdem er ihren „Ludgerus“ gelesen, die Westfalen müßten doch ein greulich dummes Volk sein, daß sie einen solchen Schatz nicht anzuerkennen gewußt et cet. Mit einem Male wurde sie mäuschenstill, und von Arnsberg, wo eine Schwester der Gräfin Bocarmé wohnt, kam die Nachricht, daß diese sich gänzlich mit ihr überworfen und sie ohne weiteres vor die Tür gesetzt habe; was sie nun anfängt, weiß Gott. …

Lieb Herz, ich bin sehr, sehr müde und angegriffen, meine Kräfte sind total zu Ende, und ich habe das Wichtigste kaum noch berührt; es geht mir wie einem, der sein Testament zu lange verschoben hat und sich nun quält, daß er es nicht mehr machen kann. Nur zwei Worte: Suchen Sie die Gall persönlich kennenzulernen, ehe Sie sich zu weit mit ihr einlassen; und dann heuraten Sie nicht ohne ein festes, wenn auch bescheidenes Einkommen Ihrerseits; unter diesen beiden Bedingungen haben Sie den vollständigsten Segen derjenigen, die mit aller Liebe und Treue einer Mutter für Sie fühlen wird, so lange noch eine Atemzug in ihr ist. (…)

Kommentare im Kontext dieses Briefes

  1. Nette … ist in dieser Zeit wirklich recht fatal gewesen und eigentlich erst seit 5 Tagen so weit besser, dass sie aus dem Zimmer geht, 8 Tage war es so arg mit ihr, dass sie wieder ganz in ihre ehemaligen Flausen verfiel, vom Starrkrampf und lebendig begraben sprach und Sophie und mich ganz zur Verzweiflung brachte … jetzt ist es … um vieles besser, besonders dadurch, dass sie einsieht, dass es nicht gleich Hals-ab geht.
    Brief an Jenny von Laßberg, März 1843

  2. Von der Droste habe ich leider hören müssen, dass sie sterbenskrank gewesen ist. Es beunruhigt mich unendlich, denn ich glaube nicht, dass sie je vollständig geheilt werde; sie leidet schon so lange und ist zu gut für diese Welt, was das schlimmste aller Symptome ist.
    Brief an Luise von Gall, 10. Mai 1843

  3. Nicht wahr, es ist Ihnen im Grunde doch nicht lieb, dass ich an Levin schreibe? Votre volonté soit fait, mon ange gardien! – aber nun sagen Sie ihm alles. Er muss es ja von selbst wissen können, wie mich sein Glück freut. Sagen Sie ihm, dass ich es fast wörtlich vorhergesagt hätte, obwohl Sie mich ausschalten, über meinen Hang zur Illusion und Romantik, in denen ich gar nicht übertrieben hatte, wie jetzt das Resultat zeigt. Außer seinem Vater hat gewiß niemand so mit ihm gefühlt wie ich, bei dieser Gelegenheit.
    Geben Sie der Wahrheit die Ehre, mein lieb Engelchen, habe ich mich nicht viel lebhafter gefreut als Sie? War ich nicht halb mit verliebt in die Gall, deren Schönheit ich Ihnen sogar aus den schlechten Gallinagedichten vordemonstrirte, und aus ihren Novellen noch mehr? Über den englischen Brief können Sie sagen was Sie wollen, er wird sich doch die einzelnen Ausdrücke schwerlich zurückrufen können, und lässt es sich gewiß nicht träumen, dass in manchen, noch dazu wohlgemeinten, Äußerungen desselben tief einschneidende Kränkungen für mich lagen, wie die Voraussetzung von Sympathie bei mir, für gefallene schlechte Leute, aber es war gewiss nicht böse gemeint, darum bin ich ihm auch nicht mehr böse deshalb. …

    Noch eins liegt mir schwer auf dem Herzen, und doch wünsche ich es sehnlichst auszusprechen: L[evin] schrieb, „er fühle keine Reue“, und bedenkt nicht, dass er die meinige dadurch noch verschärft, ich weiß, es ist dieses eine Art Großmut und Zartsinn, wie der ganze Brief ein Akt desselben war, aber grade deswegen für mich nur demütigend, obgleich ich ihm für seine Absicht in Gedanken aus vollem Herzen dankbar bin. Es wird mir schwer, es niederzuschreiben – sagen Sie ihm, dass ich jene unglückliche Verbindung allerdings sehr bereue, da sie eine große Sünde, und mich schäme, da sie eine große Torheit gewesen, und dass deshalb, so unbefangen und freundlich auch seinerseits eine Begegnung sein würde, für mich doch immer eine bittre Beschämung darin liegen müsste, ich also an sein Zartgefühl appelliere, mir diese zu ersparen, was ja leicht sei, da ich wahrscheinlich nicht mehr in Münster bin, wenn er mal nach Jahren herkömmt, also nur auf Reisen eine Möglichkeit vorhanden wäre, die er aber leicht vermeiden kann; da meine kurzsichtigen Augen ihn nicht erblicken, wenn er mir nur zehn Schritte aus dem Weg geht. Seine Frau und Kinder möchte ich aber gern einmal sehn, vorausgesetzt, dass ich ihnen unbekannt wäre.

    Auch müssen Sie ihn bei seiner Ehre verpflichten, jedes, auch das kleinste schriftliche Wort von mir zu vertilgen, wenn er es etwa noch nicht getan haben sollte. Und dann, bitte, sagen Sie ihm, dass ich ja nie bitter gegen ihn gewesen, wie er dieses zu glauben scheint, dass ich ihn immer hochgestellt und gelobt – Sie wissen das ja am besten! – und er möge meiner freundlich gedenken, so oft irgendeine wehmütige Musik seinen Geist der Vergangenheit näherbringt …
    Münster, Juni 1843

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