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Der Hausspuk in Rüschhaus

(…) Du wirst selbst wohl denken, liebe alte Sophie, weshalb ich erst jetzt antworte. Wir haben euch täglich, seit das Wetter so schön ist, stündlich erwartet, und je länger es währte, je sicherer dachten wir euch schon auf den Rädern. Nun ist vorgestern Dein Brief gekommen, und unsre schönen Luftschlösser sind kaputt. Es ist recht betrübt, daß ihr nicht kommt, aber uns doch lange nicht so betrübt, als wenn wir es vor sechs Wochen erfahren hätten, denn jetzt liegt unsre eigene Reise schon näher, und Ende Mai sind wir, so Gott will, alle zusammen.

Wir würden schon eher kommen, wenn der lange Winter nicht alles so weit hinausgeschoben hätte. Wäsche, Arbeit in Feld und Garten, und nun findet sich zum Überfluß, daß in meinem Zimmer ein Balken einstürzen will, und wir vor der Abreise uns noch mit Maurern und Zimmerleuten herumarbeiten müssen. Du wirst Dich wohl des immerwährenden Fleckens am Plafond[1]Plafond: Zimmerdecke neben dem ersten Fenster erinnern, und hast gewiß manchen Tag einen hölzernen Napf darunter stehen sehen, es konnte zuweilen gießen wie eine Dachrinne. Am Dache war aber der Schaden durchaus nicht zu finden, und die Leute hier herum glauben an ein unsichtbares Loch, durch das unser Hausspuk (Du kennst ihn ja wohl, der mit der weißen Timpmütze) aus- und eingeht. Jetzt hat Werner ein großes Blech legen lassen, und damit den Regen, hoffentlich auch den Spuk, ausgesperrt, aber als er neulich mit dem Stocke an meinen Balken stieß, fielen Stücke herunter, groß wie meine Hand, und vermufft wie Puffholz. In den nächsten Tagen soll nun der Plafond losgenommen werden, und ich wage es wirklich nicht mehr, in der Sofaecke darunter zu sitzen, und muß jeden Augenblick aufsehn, ob die Pastete nicht herunter kömmt.

Sonst sind wir gottlob wohl, und im Geiste schon halb bey euch. Mama setzt schon keine Mütze auf, ohne zu überlegen, ob sie mitreisen soll, und ich packe vor und nach meine Raritäten weg oder auch ein zum Mitnehmen. Wie wächst doch das Verlangen des Wiedersehns, wenn nicht nur so lange Zeit, sondern auch so viel Wunderliches, Fremdes, dazwischen gelegen hat! Alles anders! Andre Gegend, andre Sprache und Sitten – Du glaubst nicht, wie ich mich wieder an jedem alten bekannten Gesichte freue! Oft kommen mir die 4 Wochen bis zu euch schrecklich lang vor, und dann wieder ganz kurz, wenn ich an die letztverflossenen denke – mich dünkt, es war gestern noch März.

Die Zeit läuft immer schneller, sogar dieser endlose Winter ist hingegangen wie ein Traum. Jetzt haben wir seit acht Tagen hier ein Wetter wie Juni, vorgestern war die Hitze geradezu drückend, Mama und ich saßen einander gegenüber wie ein paar schläfrige Eulen, und ich glaube, wir haben uns nach Tische beide hingelegt – von mir wenigstens weiß ich es gewiß. (…)

References
1 Plafond: Zimmerdecke
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