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Die Zyklen des Geschmacks

Ihre Erzählung im „Morgenblatte“ habe ich gelesen, von so weit an es mir möglich war; die Blätter liegen nämlich nur bis zum Schluß des Monats im Museum vor, wo sie dann geheftet werden und fortan nur im Lesezirkel zu erhalten sind, in dem die schlechte Gewohnheit herrscht, daß man die neuesten Hefte, statt sie wieder einzuliefern, einander leiht, so daß sie oft Monate lang nicht zu haben sind: so stehn Ihre ersten Nummern im Maiheft, und ich habe sie noch nicht erwischen können. Doch enthalten, denke ich mir, die Juniblätter wohl den größeren Teil, und hiernach zu urtheilen, muß ich diesem Ihrem neuesten Produkt unbedingt den Vorzug vor allen früheren, auch der „Maske“, geben; es liegt eine tiefe Herzlichkeit, eine einfache Natürlichkeit und Richtigkeit der Gefühle darin, die mir wenigstens über alles geht. Ob mein Urtheil mit dem allgemeinen übereinstimmt, weiß ich freylich nicht, da ich zu wenig Neues lese, um genau zu wissen, bis zu welchem Punkte der gegenwärtige Geschmack seinen Zyklus durchlaufen hat; seine nächste Richtung läßt sich zwar mit Gewißheit voraussagen, ich weiß aber nicht, wie weit er schon das Übergewicht dahin genommen hat. Jedenfalls wird Ihre Erzählung binnen kurzem völlige Anerkennung finden, und wahrscheinlich findet sie es jetzt schon. Eugène Sue und namentlich seine Mystères de Paris haben so viele Nachahmungen hervorgerufen, das Geschraubte und Überreizende ist so auf die Spitze getrieben worden, daß der Umschwung notwendig ganz nahe sein muß.

Über des „Schwarzburgers“ glückliche Erfolge in Oldenburg habe ich mich sehr gefreut und wenigstens insofern recht prophezeit, daß ich das Stück für sehr geeignet zur Darstellung gehalten habe; auch ist es überhaubt ein gutes Stück; nur meinte ich bisher, Levins Talent für den Roman und das Lustspiel sei noch bedeutender als das zum ernsten Drama, und kann auch noch nicht von diesem Glauben lassen. Glänzende Poesie in Gedanken und Stil nebst Humor scheinen mir so vorherrschend seine starken Seiten, daß ich meine, er müsse sich am besten auf dem Terrain befinden, wo diese am freiesten walten können.

Bei der Erzählung Luise Schückings handelt es sich um "Die Heimat", erschienen zwischen 20.5. und 6.6.1844 im "Morgenblatt für gebildete Leser". Mit anderen vor allem süddeutschen Zeitungen liegt das Morgenblatt gewöhnlich im Zeitungs- und Lesekabinett in Meersburg aus.
Eugène Sue ist der französische Arzt und Schriftsteller Marie-Joseph Sue. Seine hier erwähnten "Geheimnisse von Paris" werden mit großem Erfolg über zwei Jahre hinweg als täglicher Fortsetzungsroman in einer Zeitung veröffentlicht.
Die Korrekturfahnen zu seinem Schauspiel "Günther von Schwarzburg" hat Levin der Droste zukommen lassen. Gegenüber Elise Rüdiger übt sie deutliche Kritik an dem Werk.
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