Deine Zeilen, meine liebste Hanne, haben mich sehr gefreut, als Nachricht von Dir, als Zeichen Deines Andenkens und endlich als Beweis der Dir so eignen großen Freundlichkeit, mit der Du jedem gern nur Angenehmes und Liebes mitteilst. Mama und ich haben, nach Empfang derselben, den Abend in Gedanken mit Dir zugebracht, d.h. nicht Deinen wirklichen Casseler Abend, sondern einen Rüschhausischen, wie wir deren mit Dir so vergnügt durchlebt. Wann sieht mein schwarzer Kanapee Dich mal wieder? Er ist vor Kummer und Sehnsucht so grau geworden, daß wir ihn haben müssen renovieren lassen, aber schwarz ist er wieder geworden, wie denn überhaubt Rüschhaus einer der unveränderlichsten Orte ist, und wo man den Flug der Zeit am wenigsten gewahr wird.
Doch hat mir dieses Jahr etwas genommen, was ich sehr schwer vermisse, meine gute Alte (Du wirst dich ja ihrer erinnern), die vor zwei Monaten der Schlag, den sie aber noch mehrere Tage mit vollem Bewußtsein und gottlob schmerzlos überlebte, in eine bessere Welt geführt hat, wo gewiß ein guter Platz für sie bereitet war. Du begreifst, liebste Hanne, daß dieser Verlust mir sehr nahe geht, ich war seit vielen Jahren an sie gewöhnt, und ihre Treue hat auch jede Liebe und Andenken wohl verdient, so ist es mir denn auch, als hätte ich eine nahe Verwandte verloren. (…)
Die Rüdiger hat durch ihre Tante gehört, Male werde zunächst nach Cassel kommen. Ist dem so, so bitte laß mich doch gleich ihre Ankunft wissen. Ich möchte ihr gar zu gern schreiben und weiß sie nicht aufzufinden. In den nächsten vier Wochen trifft deine Nachricht mich noch hier, gegen das Ende Mais aber beziehn wir unsern Sommeraufenthalt in Apenburg.
(…) wir sind, wie du weißt, stille Leute, am liebsten zu Hause und auf unserm Zimmer knüselnd. Ich lebe jetzt einsamer als je. Junkmann ist fort, in Bonn, wird von da nach Berlin gehn, um zu promovieren, und dann hoffentlich nicht nach Münster zurück, wo nichts für ihn zu machen ist. Lutterbeck auch fort, Professor in Siegen; der Mahler Sprick tot. Mein guter Blinder (Schlüter) vergebens operiert und seitdem so lichtscheu, daß er sich gar nicht mehr so weit bis zu uns hinaus wagt; Schücking wohl für immer in Süddeutschland fixiert, sehr glücklich in seiner Ehe und seinem nagelneuen Söhnchen.
So ist mein alter Kreis gänzlich gesprengt, und es hat mir bisher an Zeit und Gesundheit, folglich auch wohl an Lust gefehlt, mir einen neuen zu bilden, obwohl dieses, wenn ich mahl das Bedürfnis fühlen sollte, nicht schwer werden wird; denn es gibt viele sehr gescheute und nette Leute in Münster, und jedermann macht gern bey schönem Wetter kleine Landpartien. So hat meine liebe Rüdiger zwei Freundinnen, Nanny Scheibler und Luise Delius, die mir beide (jede in ihrem Genre) sehr gefallen, und von denen wenigstens die Letztere (die besser zu Fuße ist) sich wahrscheinlich bey uns einbürgern wird. Übermorgen erwarten wir sie zum ersten Male, sie ist unbeschreiblich sanft und, obwohl in den Dreißigen, gemütsfrisch wie mit sechzehn Jahren. Nanny ist ernster, lebhafter, sehr gescheut, aber schwächlich und durch eine gichtkranke Mutter gänzlich ans Haus gefesselt; so darf ich auf diese nur für Münster rechnen, wohin ich jetzt selten komme. Doch fühle ich durchaus keinen mangel an gesellschaft, ich stecke immer über und über in Arbeiten, und meine Rüdiger ist mir mehr wie zehn andre, sie kömmt zuweilen, schreibt oft, und jeder ihrer Briefchen macht mir einen heitren Tag, ich habe sie sehr lieb. (…)
Was macht doch Louis Grimm? Und was Jakob und Wilhelm ? Zu mir kommen nur so einzelne verlorene Stücke Nachricht. Einmal waren beide krank, dann beide hergestellt, und dann war man doch nicht zufrieden mit ihrer Gesundheit. … Vor allem liegt mir aber doch Male am Herzen, und ich kann es nicht erwarten, genauere Nachricht über sie zu bekommen. Sie ist gewiß sehr angegriffen! Das arme Ding! Es ist dumm, wenn man sich so aus der Korrespondenz kommen läßt, man ist nachher so ungeschickt und ratlos, wenn man wieder anknüpfen möchte und nun so vieles dazwischen liegt, was man nicht weiß.
Antworte mir doch bald, liebe Hanne! Die Zeit läuft so schnell und immer konfuser, daran sind die Eisenbahnen schuld, man kömmt auseinander, leiblich und geistig. Gottlob, daß das Hangen an Erinnerungen mit den Jahren zunimmt, sonst müßte es eine schreckliche Zerfahrenheit geben. Drum antworte bald, liebste Hanne, ehe die Zeit uns packen kann (…)