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Im Jammertal

(…) Niemals ist es einem Menschen so kläglich gegangen als mir, seit Ihr fort seid. Ich begreife in der Tat nicht, wie ich noch dabey auf den Beinen bleiben kann — keine vergnügte Stunde habe ich gehabt, außer den ersten 4 Tagen, wo ich schöne Versteinerungen fand. Deshalb wundere dich nur nicht, daß ich erst jetzt schreibe, aber nun will ich Dir auch alle meine Unglücker der Reihe nach klagen.

Nachdem also die guten Steine gefunden worden waren, am 5ten Tage nach eurer Abreise, fand ich des Morgens meine Amme sehr krank, sie bekam die Grippe in sehr hohem Grade, und da sie sich ihr auf den Kopf warf, sie deshalb zuweilen wie besinnungslos war, nicht antwortete, wenn man sie fragte, auch ihr der Hals ganz zuging, so dachte ich einige Tage lang, sie würde sterben; das war die erste Tour. Ich schlief des Nachts wenig und meinte damals schon, ich sei ganz herunter, aber das war nur Aberglauben, ich bin es noch nicht, und habe doch seitdem ganz andre Suppen ausessen müssen.

Indessen hatte ich beständig Anfechtungen von der Frau v. Schonebeck: die mich eins übers andre Mal durch die Bückersche fragen ließ, wann sie mich zu Hause treffen könne, ich ließ mich mit der Kranken entschuldigen, es war aber doch unangenehm …

Arno fiel in diesen Tagen grade durchs Examen und kam wie ein halb verrückter Mensch zu mir, und Frau v. Schonebeck fiel mich auf der Straße an, ich sagte ihr zwar, ich habe kein Geld, sie lief aber immer neben mir her, und ich entsprang endlich bongré malgré[1]wohl oder übel, notgedrungen in Katerkamps Haus …

Eben zu Rüschhaus angekommen, machte ich mich gleich wieder auf nach Hülshoff, wo die Mamsell vor 2 Tagen krank geworden war — wie es mir dort ergangen ist, wird dir Linchen wohl geschrieben haben, obgleich sie es selbst nicht recht wissen kann, denn sie hat sich, wie billig, gar nicht bey der Kranken sehn lassen, und Werner in all der Zeit nur zweymahl auf ein paar Minuten — er hatte eine gewaltige Scheu vor der Kranken, und es war auch kein Spaß, sie war viel schlimmer wie die Schürmann — ebenso desperat und dabey übrigens ganz klug, was die Sache erst recht greulich machte, und sterbenskrank, so daß zuweilen wir und der Doktor selbst ihren Tod stündlich erwarteten.

In den ersten 14 Tagen setzte sie die Versuche, sich umzubringen, nicht anders aus, als wenn sie vor Ermattung umfiel, und dann eine halbe Stunde mit gebrochnen Augen wie sterbend lag, und dann ging das fürchterliche Geheul, die Verwünschungen, das sich-in-Arm-und-Finger-beyßen wieder an, dabey kannst du nicht denken, wie sie aussah. Werner, der sie einmahl bey einem ganz gelinden Anfalle sah, kann das Bild noch nicht wieder los werden. Anfangs meinte ich, ich müsste verrückt werden, aber man gewöhnt sich endlich selbst an so etwas.

In dieser Zeit schickte mir Frau von Schone[beck] einen Boten mit einem Briefe, dem Boten sollte ich doch gleich das Geld mitgeben, worum sie mich im Briefe bat, sie wollte ein Gut kaufen, und zu der ersten Auslage sollte ich ihr 11 Reichstaler leihen — ich war verlegen, denn 11 Reichstaler einer solchen Frau abzuschlagen ist unangenehm, und doch wollte sie es nur irgendeinem brotlosen Advokaten in den Hals werfen. Werner ließ dem Boten sagen, ich sei abwesend …

Nachdem ich fünf Wochen in Hülshoff zugebracht und die Mamsell anfing etwas vernünftiger zu werden, wollte Werner, daß ich auf einige Tage nach Münster gehn sollte, um mich zu erholen und aufzuheitern! Ich ging, sobald ich angekommen, zur Looz, und fand Victorine Dussaillant am Verscheiden; daß sie ein Brustfieber gehabt hatte, wusste ich, aber nach den letzten Nachrichten war alles glücklich überstanden — du kannst dir denken wie mir zumute war. Victorine starb in derselben Nacht. Ich mochte die arme Charlotte nicht im Stiche lassen und habe bey ihr ausgehalten, bis alles, Begräbnis, Exequien et cet., vorüber war.

Das Lokal war fatal, alle Zimmer einzeln an einem langen schmalen Gange, und in dem ersten lag die Leiche, man konnte nicht ins Haus und heraus, auch im Hause nirgends hin, ohne immer etwas davon zu sehn, wenigstens die schwarzen Fackeln, denn die Türe stand immer offen und eine Unzahl von Menschen strömte aus und ein — dabey ein Weihrauchdampf und Leichengeruch durcheinander zum Ersticken, zudem war das Fieber ansteckend gewesen (Nervenfieber), man mußte immer Kalmus kauen — kurz, es war abscheulich! trübselig! und draußen tanzten die Kinder noch immer um die Lambertskränze, das war erst recht greulich, wenn man so aus dem Totenhause kam.

Niemals habe ich mich auf eine so erbärmliche Art aufgeheitert!

… in Münster hat mich die Schonebeck morgens im Bette überfallen, sie brachte zwei große Stammbäume, woraus ich ihr die Familie sollte suchen helfen, bey denen sie, auf dem Grund einer fast antediluviantischen Verwandschaft, betteln könnte — dann sollte ich Geld leihen, und als ich ihr bewies, daß ich gegenwärtig nichts habe, sollte ich ihr Kredit machen, für ein paar neue Ärmel in ein schwarzseidenes Kleid — das habe ich denn tun müssen, d. h. die Ärmel für sie kaufen – auch item 2 Reichstaler in den Dreck geworfen!

Einmal wollte ich mich etwas erholen und die Kunstausstellung sehn — das kostete nur 4 Groschen, und war sehr hübsch fürs Geld, aber kaum trete ich in die Aula, packen mich Caravachi und Heindorf, ich muß zur nächstens stattfindenden Verlosung 2 Lose nehmen — wiederum 2 Reichstaler — bin ich nicht zum Unglück geboren?

Hier taugt es jetzt auch nicht, ich bin erst den vierten Tag hier und habe schon allerlei Kalamitäten gehabt. Erstlich Samstagabends angekommen, starkes Kopfweh! Sonntag, sehr übel geworden in der Kirche, schlechtes Wetter, alle Birnen ausgepresst, alle Pflaumen gebacken, nichts für mich zu schnabelieren. Montag starkes Kopfweh, die Amme wieder eine Art Grippe, ich den ganzen Tag über im Hause versteckt, weil die Schonebek in der Wehr ist, zu Nienberge, und schon zweimahl am Hause vorbey und rund drumher gegangen ist; sie haben ihr weisgemacht, ich sei in Hülshoff. Dienstag, morgens Kopfweh, die Amme krank, nachmittags will ich mich erholen und gehe nach Högemans herunter – Högemans packen mich und wollen mir Geld ableihen zu ihrer Reise nach Amerika, ich echappiere glücklich; zu Hause angekommen, sagt mir Lisette, daß Fritz Hüger tot und vorgestern begraben ist; dann kommt Werner, erzählt mir, daß Mama die belle rose hat und die Spiegel verlobt ist; wie er fort ist und ich in meiner Betrübnis und Ärger dazu in die Allee gehe, um mich aufzuheitern, kriegt mich die Huerlendersche, meine Freundin, und ich muß ihr 10 Reichstaler leihen. Mittwoch (heute) morgens Kopfweh, Amme krank, Lisette erzählt mir die Details von Hügers Tode, ich will mich aufheitern und gehe in den Garten, Therese Oelpers, die im Hause nach Mama gefragt und die man schon abgewiesen hatte, kömmt heran (ick sog ihr do jüst gohn, da wull ick ehr doch guden Dag seggen) ach du lieber Himmel! Heraus, heraus mein Beutelein, ein jeder will bezahlet sein!

Nein! Niemals will ich mich mehr aufheitern, niemals! Lieber will ich dies schreiben, seit ich die Feder angesetzt, ist mir auch noch kein Unheil weiter geschehn (…)

References
1 wohl oder übel, notgedrungen
Schwester Jenny und Mutter Therese halten sich bei den Verwandten in Bökendorf auf.
bongré malgré = wohl oder übel
antediluvianisch = vorsintflutlich
item = ebenfalls
echappieren = entkommen
Ick sog ihr do jüst gohn, da wull ick ehr doch guden Dag seggen = Ich sah Sie just da gehen, da will ich Ihnen doch guten Tag sagen
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