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Ich habe viel Angst um sie ausgestanden 

Du siehst aus diesem langen Bogen, liebste, beste, alte Mama, daß ich wenigstens den Willen habe, recht viel zu schreiben. Ob ich dazu komme, das weiß Gott; obgleich ich nichts, gar nichts zu tun habe und auch nirgends hingehe. Aber ich habe mein Nichtstun so künstlich eingeteilt, daß mir keine Minute übrigbleibt und ich den ganzen Tag wie auf der Flucht bin. Du kannst meine höchst einfache und pünktliche Lebensordnung schon aus meinen früheren Briefen beurtheilen. Eben in derselben Form besteht sie noch immer. Ich lebe so sehr nach der Uhr, daß ich mich ganz desorientiert fühle, sobald ich mal etwas anderes vorgenommen habe. (…)

Wir sind hier Gottlob Alle wohl, nur Pauline kann noch immer nicht wieder zu ihrem früheren guten Aussehen und Kräften kommen, im Gegenteil, obgleich sie wieder ziemlich heiter ist, so meint doch Jedermann hier, daß sie von Tag zu Tag abnehme. Uebrigens ißt sie gut, schläft gut und macht täglich durch Schnee und Eis die fatigante Partie in die Baumschule mit, — aber es ist wahr, sie sieht elend aus und klagt auch häufig über Allerley, was aber wie Rheumatismus aussieht.

Es sind hier, seit ich hier bin, viele Leute gestorben, die Werner wohl zum Teil, kennen wird; — Professor Hasse am Miserere[1]Darmverschluss; – er hinterläßt eine Frau mit 6-7 unversorgten Kindern, – und Nichts wie Schulden. Die älteste Tochter (Julchen) ist seit zwei Jahren an einen jungen, angehenden Professor verheurathet (Pujet); die jungen Leutchen mußten ihre Wirtschaft mit Schulden anfangen, da kein Kapital zur Einrichtung da war, — haben jetzt schon 2 Kinder, – und kurz, es war so Schmalhans Küchenmeister dort, daß der alte Hasse sie eigentlich mit durchschleppen mußte; — nun ist es umgekehrt, – die ganze Wirtschaft liegt Pujet auf dem Halse, und die Armut ist bisweilen so groß, daß die Kinder vor Hunger weinen. — Die Witwe wird noch wohl Etwas aus der Witwenkasse bekommen, aber das verzögert sich noch, und wird der armen Frau auch vorläufig nicht zu Gute kommen, da die Schulden so groß sind. Man macht sich große Hoffnung darauf, daß Fürstenberg etwas tun soll, – er hat auch schon was getan, – eine Summe Geldes hingeschickt, und auch ziemlich viel, – aber man hofft auf eine Pension, — ob er das tun wird, ist sehr die Frage.

Du kannst dir übrigens nicht denken, was man hier überall für Anspruch an ihn macht, als ob er der Schatzmeister des ganzen Reichs wäre; — es kann hier auf 20 Stunden Weges, kein Haus abbrennen, keine Kirche oder Schulhaus gebaut werden, etc. etc. — daß man nicht meint, es wäre Fürstenberg seine verfluchte Schuldigkeit wenigstens die Hälfte des Schadens zu tragen. — In diesem armseligen Jahre kommen, glaube ich, dergleichen Bittschriften zuweilen 3—4 in einem Tage, und jeder Bittsteller macht sich wenigstens auf ein paar hundert Thaler Rechnung. — Ich kenne Fürstenberg übrigens sehr wenig, und kann nicht sagen, daß er mir, bis hierhin, besonders gefällt, aber von dem Vorwurf des Geizes, den man ihm so häufig in Münster macht, muß ich ihn total frei sprechen, — er gibt ungeheuer viel; ich glaube daß er, von all dem Anlauf, zuweilen nicht weiß wo ihm der Kopf steht.

Gestern ist, unter der Hand, der Verkauf von Hasse’s Bibliothek gewesen; — wie immer, haben Die am Meisten getan, die am Wenigsten hatten, — Prof. Münchow, der sehr wenig übrig hat, hat dennoch viele Bücher weit über dem Ladenpreis bezahlt, — der arme D’Alton, der, wie ich fürchte, selbst sehr brouilliert mit seiner Kasse ist, hat, da er Nichts Anderes tun konnte, mehrere seiner eigenen Bücher herbey geschleppt, um damit einige Werke aus Hassens Bibliothek zu COMPLETTIREN, damit sie besser verkauft würden, — ist das nicht rührend? — Dagegen benahmen sich eingeborene Bonner, denen sie schuldig sind, wie wahre Esel. — Einer von ihnen, — Werner kennt ihn, B.cker (…) hat bey seiner Rechnung Zinsen von Zinsen berechnet; Clemens sagt, wenn man wollte, könnte man ihn verklagen, denn das sei keinem Kaufmann erlaubt.

Du denkst gewiß, warum ich Dir das Alles so weitläufig schreibe, da du die Leute gar nicht kennst, — aber es interessiert vielleicht Werner, und ich selbst habe den Kopf davon ganz voll, da ich immer davon reden höre, — die Leute kenne, und weiß, welch ein berühmter Mann in seiner Art Hasse gewesen ist, und nun geht es so!

Auch der berühmte Staatsrat und Däne, Niebuhr ist vor 14 Tagen sehr schnell gestorben, und einige Tage nachher seine Frau ebenfalls — beide an einer Lungenentzündung: sie hinterlassen vier unerwachsene Kinder; der allgemeine Antheil ist nicht so groß wie bey Hasse, da bedeutendes Vermögen da sein soll, und die Professorin Bethmann-Hollweg sogleich die Kinder vorläufig zu sich genommen hat, — aber die Universität hat einen berühmten Mann an ihm verloren, und man glaubt es würden in Zukunft, gar keine Engländer mehr hierhin kommen, — da diese bloß um Niebuhr zu hören, Bonn besucht hätten.

Der Staatsrat Hardt ist auch gestorben, aber das war ein steinalter Mann, und nicht beliebt, aber unversorgte Kinder hinterläßt er auch, und kein Vermögen. – So geht es hier mitunter erbärmlich zu, – aber ich und meine nächsten Umgebungen sind ganz passabel wohl.

Nun will ich aber auch Jenny’s letzten Brief beantworten. (…) Jenny frägt in ihrem Briefe, wann ich wieder zu kommen gedächte; – ja liebste Mama, darüber hast du nur zu befehlen; – von hier aus weiß ich, vor den Osterferien, keine Gelegenheit; wisst ihr aber dort eine, so bin ich jeden Augenblick bereit, denn so gut es mir übrigens hier auch geht, so ist es mir doch noch nie in meinem Leben so wohl irgendwo geworden, daß ich nicht immer mit dem größten Vergnügen wieder nach Haus gegangen wäre; — ja, wenn ich Dich und Jenny und die Hülshoffer im Koffer hätte mitnehmen können, dann wäre es ein Anderes (…)

Plittersdorf, 7.

Mein Brief ist schon fast acht Tage alt geworden. Ich bin hier, um die Mertens zu pflegen, die sich, grade an dem Tage, wo ich angefangen zu schreiben, durch einen Stoß am Kopfe verletzt hatte. Ich habe viel Angst um sie ausgestanden, aber jetzt wird, hoffentlich, alle Gefahr überstanden sein. Doch ist sie noch sehr schwach und schläft des Nachts äußerst wenig. Doch gottlob, daß die Schmerzen im Kopf nicht zur eigentlichen Entzündung gekommen sind; sie hat diese Nacht einige Stunden geschlafen und hat guten Appetit. (…)

Hier haben wir vor 14 Tagen ein gewaltiges Nordlicht gehabt, es hat den ganzen Himmel fast eingenommen gehabt und in den schönsten bunten Farben gespielt, — ich habe aber leider Nichts davon gesehen.

Dem lieben alten Hans hoffe ich Goldtinte und noch mehrere schöne Sachen mitbringen zu können, — sage es ihm aber nicht, denn ich weiß es noch nicht gewiß, — aber ich habe gute Aussichten dazu.

Es ist hier sehr mildes Wetter, aber acht sehr kalte Tage haben wir doch auch gehabt, so daß der Rhein an einigen Orten stand, und in diesem Augenblick gewaltige Eismassen an meinem Fenster vorbeysegeln. Cöln ist halb verrückt über den Prinzen Wilhelm und seine Frau, die es jetzt in seiner Mitte hat, — aber das sind Sachen die mich nicht interessieren.

Im Karneval gehn Clemens und Pauline nach Cöln, — ich werde mich aber hübsch zu Haus halten, — es kostet nur viel Geld, und ich habe gar kein Verlangen darnach. (…)

Das Papier ist zu Ende, und ich mag die andere Seite nicht beschreiben, sonst kann der Brief mit dieser Post nicht mehr fort. Adieu liebste, beste Mama, tausend Herzliches an Alle, und bitte schreibt mir doch auch von allen Bekannten

Deine gehorsame Tochter Nette.

Wie geht’s Onkel Max? Johannes? Constans? Sprickmann? Rosine Wintgens und Tante Sophie Schmising? Bönninghausens? der Amme? Lisette? Trutchen? Wilmsen? dem Pastor von Roxel? dem Pastor, und Tanten zu Nienberge? dem alten Trap? dem armen Bücken? lebt meine schwarze Mutius noch und die alte Madam?

References
1 Darmverschluss
Johann Christian Hasse war Jura-Professor an der Universität Bonn, er erliegt am 18. November 1830 den Folgen eines Darmverschlusses (Miserere); der Althistoriker Barthold Georg Niebuhr stirbt am 2. Januar 1831 in Bonn.
Adele Schopenhauer beobachtet die Nähe zwischen ihrer Freundin Sibylle Mertens und der Droste mit wachsender Eifersucht. Mitte März 1831 löst sie Annette bei der Krankenpflege ab. Wenige Wochen später bittet Adele die Droste, wiederum die Pflege zu übernehmen - doch diese weigert sich zunächst, weil sie ihre Freundin Wilhelmine von Thielmann in Koblenz besuchen will. Nach einem Streit mit Adele kehrt Annette Ende April wieder ans Krankenbett der Mertens nach Plittersdorf zurück.
Annette von Droste nennt ihre Schwester Jenny gerne auch mal beim Spitznamen "Hans".

Kommentare im Kontext dieses Briefes

  1. Die Mertens hat mir den Teil Ihres Briefes mitgeteilt, welcher Ihre Reise nach Koblenz zur Thielemann betrifft, ich begreife eine Menge hierbei, zum B[eispiel], dass Sie jetzt hinwollen um die letzte Zeit dem kranken Tierchen nicht mit Gewalt entziehen zu müssen, und dass Bonn trotz seiner enormen Vorzüge doch nicht ganz an das Paradies reicht, auch was Sie in Hinsicht meines Bleibens sagen, begreife ich! Es ist eine enorme Sache um den menschlichen Verstand! Ich glaube, Sie haben ganz recht, wenn Sie sagen, dass Sie immer nur eine gewisse Zeit bleiben können, diese mag nun in 8 oder 14 Tagen anfangen, aber dennoch, liebe Droste, kann ich Ihnen durchaus nicht unbedingt versprechen, noch mehrere Wochen zu bleiben der Mama wegen. … ich möchte überhaupt nichts entscheiden, denn mir ist noch immer nicht recht klar, ob es besser ist, wenn Sie Billchen pflegen oder wenn ich es tue, die Bäder tun es nicht allein, Ihre große Heiterkeit tut doch auch sehr viel.
    Plittersdorf, etwa Mitte April 1831

  2. Liebe Nette, ich habe Sorge, dass Sie durch meine Art und Weise … verletzt sind. Nehmen Sie meiner Lage und meiner ganzen Stellung nicht zu viel übel; ich glaube jetzt etwas zu viel Entschuldigungen zu haben; jetzt eben, heißt das; damals eigentlich nicht. Doch ich höre zuletzt, wenn man lange mit mir spricht, nicht was man sagt; ich fasse es nur im Allgemeinen auf, was man meint, und schweige oft aus peinlicher Zerstreuung.

    Glauben Sie mir, liebe Nette, ich will wo möglich niemandem etwas Unangenehmes oder gar Schmerzliches empfinden machen, ich bin nur ganz ungeschickt und im Ganzen äußerst schwer (bei so vielen Eigenheiten) richtig zu behandeln. Das hat mich verleitet, und ich fürchte, ich habe allerlei ganz Dummes gemacht und gesagt. Vergeben Sie das, wenn Sie irgend können.
    Bonn, April/Mai 1831

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