(…) Meine Hausgenossen sind gestern ausgeblieben, ob sie noch in Hülshoff stecken oder in Münster – vielleicht bey Ihnen – weiß Gott. Sie hatten beide Touren vor, wollten aber gestern abend damit fertig sein. Die Hanne macht hier bonne mine au mauvais jeu. Ich glaube, sie findet Rüschhaus schauderhaft einsam, und hat sich wohl unter einem Landleben so nahe bey Münster ganz was anderes gedacht, eine Art Gartenhausparade, wo man die ganze Stadt vorüber- und die halbe hineinziehen sieht. Zudem hat sie sich mich wie mit einem Lichterkranz gelehrter Freunde umsteckt gedacht, wo sie ihre Lampe nicht übel leuchten zu lassen hoffte, und so oft ich in Abbenburg eines Bekannten erwähnte, war gleich die Antwort da: „Mich soll wundern, wie ich mich zu dem passen werde!“ Ich dachte: „Du lieber Gott!“, war aber zu faul ihr zu sagen, daß wir wie auf einer verwünschten Trauminsel wohnten, wo nur Sie zuweilen als Meteor über den See strichen. Nun sieht die arme Seele den ganzen Tag aus, als wäre sie zu fest geschnürt, und macht bey jedem Hundegebell rechtsum auf dem Stuhle in Erwartung der Abenteuer, die nicht kommen. Ich hoffe, jetzt in Münster kömmt ihr noch eins oder anderes Interessante zu Gesicht, sonst wird sie ihr Postgeld bitter bereuen.
Wie machen es doch manche, trotz aller Jahre und Täuschungen (die Hanne ist nicht arm an beiden) so frisch zu bleiben? So voll Streben, Unruhe, Freude an kleinen Erfolgen? Im Grunde sind sie doch zu beneiden, und wir tun Unrecht, an Älteren unangenehm zu finden, was uns doch an der Jugend rührt und freut. Geistesfrische sollten wir in jeder Gestalt ehren, und wollen sie doch durchaus nach den Jahren modifiziert haben. Die Jugend soll ihr Feuer nach außen sprühn, das Alter es nach innen wärmen und leuchten lassen; die Jugend streben, das Alter das Erstrebte grün und lebendig erhalten. Ob diese Forderungen gerecht sind? Manche haben im Alter noch so blutwenig gefunden (oder behalten können), daß die Gabe, mit immer neuer Freude und Sehnsucht zu suchen, nur eine Billigkeit des Schicksals ist, die wir ihnen gern gönnen, und sie eher darum bewundern sollten.
Ich höre Stimmen – die der Mama – jetzt die der Hanne, und fühle mich so rot werden, als hätte sie mir über die Schulter in den Brief gesehn. Ich muß hinüber, sonst kömmt sie hier, und ertappt mich gleichsam in flagranti.
5 Uhr: Die Hanne ist strahlend von guter Laune, entzückt von Ihnen, von Münster, von Hülshoff, und jedem einzelnen Kinde darin. Meine gute Mama glückselig darüber und läßt sich zum zehnten Male alles Liebe und Schöne wiederholen, was sie an ihren Enkelchen entdeckt hat, so kann ich einige Minuten stehlen, um dieses Blatt auszufüllen.
Ich war im Garten, mein Liebchen, um Ihnen eine andre weiße Rose zu schicken, und – denken Sie! – es ist keine mehr da, der Sturm in der vorigen Nacht hat die letzten entblättert! Es war mir so unangenehm, fast ängstlich, daß ich Ihnen beynahe die kahlen Stengel mit einigen grünen Blättern gepflückt hätte, aber das kam mir doch gar zu trübselig vor. Ich denke, in Meersburg finden wir immerblühende Rosen, und ich gebe Ihnen dann die frischesten vom Strauche, dem Sommer und Winter gleich ist, wie unsrer Liebe ja auch, nicht wahr, mein Herz?
Ich habe mir vorgenommen, diese Reise mit Ihnen recht aus dem Grunde zu genießen, nämlich als Reise mit Ihnen. Sonst ist mir der Weg fast überbekannt, sonderlich bis Coblenz, wo ich sonst bey meinen öfteren Besuchen am Rhein meiner armen Thielemann so oft entgegengefahren bin. Das ist auch eine düstre Stelle in meinem Leben. Ich muß Ihnen nochmal recht von der Thielemann erzählen. Ich habe sie sehr lieb gehabt, ihr hinsichtlich meiner Geistesbildung sehr viel zu verdanken, und doch denkt jedermann nur an ihre späteren, freylich jahrelangen gestörten Stimmungen und vergißt, was sie war, so lange sie ihrer mächtig blieb. In mir soll ihr wenigstens eine treue Erinnerung bewahrt bleiben. (…)
Ich weiß nicht, ob ich Dir schon erzählt habe, wie seine [Schückings] Quasi-Pflegemutter Annette Freiin von Droste hier war und diese nebst ihrer Freundin R. R. Rüdiger aus Münster mich zu jener Ausnahme [Lektüre einer Novelle Schückings] verführt haben.
An Ferdinand Freiligrath, 15. 12. 1843