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Schücking seh‘ ich kaum

(…) Scheppe und ich sind auch dicke Freunde und haben uns wertvolle Geschenke an Versteinerungen und Schneckenhäusern gemacht, denn er kriecht ebenso wie ich am See und in den Weinbergen umher und ist lange vor mir gekrochen, so daß die Meersburger an diese neue Art von Vierfüßlern gewohnt sind, was mir jetzt gut zustatten kömmt, denn es fällt keinem ein, was Besonderes darin zu finden, die Höflichsten bleiben sogar stehn und geben mir die Stellen an, wo seltene Sorten zu finden sind und wo der Physikus und Herr Jung auch gesucht hätten. …

Ich gehe zuweilen zu Kessels oder den guten Klosterfrauen, deren freundliche und verständige Unterhaltung mich sehr anspricht, sonst zu niemandem, denn ich habe keine Zeit, da der Nachmittag fast ganz mit Spazierenlaufen hingeht und ich morgens auch sehr spät an die Arbeit komme; bis es so warm im Zimmer geworden ist, daß ich aufstehn kann, und bis ich dann meine Strümpfe gestopft, gefrühstückt, mich angekleidet und einen kleinen Besuch bey Jenny und den Kindern gemacht habe, ist es immer schon halb elf oder zehn, und ich muß jede Minute zu Rate halten, wenn ich diesen Winter was Ordentliches zustanden bringen will. Jeden Abend um acht, wenn wir schon alle im Speisezimmer sind, Laßberg aber noch seine Partie erst ausspielt, lese ich Jenny und Schücking vor, was ich den Tag geschrieben; sie sind beide sehr zufrieden damit, aber leider von so verschiedenem Geschmacke, daß der eine sich immer über das am meisten freut, was dem andern am wenigsten gelungen scheint, so daß sie mich ganz konfus machen könnten und ich am Ende doch meinen eigenen Geschmack als letzte Instanz entscheiden lassen muß.

Mit Schücking geht es sehr gut hier, er hält sich sehr still, hat gar keine Bekanntschaft in der Stadt und kömmt den ganzen Tag nicht von seinen Büchern fort, außer gleich nach Tische, wo er den Weg zum Frieden einmahl auf- und abläuft, um sich Bewegung zu machen. Seine Gesundheit hat sich gottlob sehr gebessert, woran außer dem Klima auch wohl die gute Kost und Sorgenfreiheit großen Anteil hat. Laßberg scheint ihn lieb zu haben und unterhält sich bey Tische fast ausschließlich mit ihm, scheint aber auf seine Gedichte und sonstigen belletristischen Arbeiten keinen großen Wert zu legen. Jenny hat ihn auch gern, weil er fleißig ist und gar keine Last im Haus macht. Kurz, ich muß es doch für ein Glück rechnen, daß er hieher gekommen ist, obwohl ich selbst sehr wenig von ihm habe und mit auch gleichwohl eingefallen ist, ob die Bornstedt, die verdrehte Person, nicht darüber räsonnieren würde. Indessen, ich habe die Sache nicht gemacht, habe auch nichts daran ändern können, würde es auch auf keinen Fall getan haben, sondern wäre eher selbst zu Hause geblieben, als daß ich den armen Schelm um diese vielleicht einzige gute Zeit in seinem Leben gebracht hätte, wo er auch noch Bekanntschaften macht, die ihm vielleicht voranhelfen können. (…)

Dass Levin Schücking sich zeitgleich auf der Meersburg aufhalten wird, kommt für die Droste keineswegs so überraschend, wie sie gegenüber ihrer Mutter und später auch gegenüber der Freundin Elise Rüdiger vorgibt. Den Plan, Schücking die umfangreiche Bibliothek des Schwagers Laßberg sortieren zu lassen, haben Annette und ihre Schwester noch im Rüschhaus zusammen ausgeheckt. In Münster sorgt vor allem Luise von Bornstedt wegen dieses Zusammentreffens in der Ferne für "fatalen Klatsch".
Die Bornstedt hat sich inzwischen nicht nur bei der Droste, sondern allgemein in Münster unbeliebt gemacht, was schließlich, während Annette in Meersburg weilt, auch die literarische "Heckenschriftsteller-Gesellschaft" im Hause Elise Rüdigers sprengt.

Kommentare im Kontext dieses Briefes

  1. Die Doktrin war nun zwar geschlagen, aber die Doktrin gab sich deshalb nicht gefangen. Sie kritisierte die Form der Gedichte: sie war sehr unzufrieden mit den einzelnen Wendungen, die ihr gegen den Genius der Sprache, mit Ausdrücken, die ihr unverständlich, und mit Reimen, die ihr schlecht schienen; sie fand einzelne Gedichte dunkel und unklar und verlangte eine viel sorgsamere Feile. Dann gab es lange Debatten zwischen der Doktrin und der naturwüchsigen Praxis. Die Doktrin bot alle ihre Weisheit auf, um die Praxis auf den Pfad der Vernunft zurückzubringen, und die Praxis wies diese Weisheit mit souveräner Frauenlogik zurück.

    Sie rächte sich endlich an der Doktrin mit einer empfindlichen Strafe; sie machte ein schmähliches Spottgedicht auf dieselbe.
    Aus: Annette von Droste. Ein Lebensbild, 1862

  2. Die Droste unterbrach mich eben, indem sie in meinen Turm kam, um mir ihr Gedicht vorzulesen; täglich wird eines fabriziert; jetzt sind es schon 53, und wenn die 100 voll sind, sollen sie als Sammlung herausgegeben werden; einige wirst Du wahrscheinlich nächstens im “Morgenblatt” lesen; sie werden übrigens von Tag zu Tag besser. Sie grüßt Dich herzlich.
    An Ferdinand Freiligrath, Februar 1842

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