Site Overlay

Gott bewahre mich vor dem Heimweh

(…) Nun hat mein bekannter Äquinoktalhusten[1]Äquinoktium: Tag- und Nachtgleiche, an dem ich leider einige Wochen sehr gelitten, und den meine Schwester noch nicht miterlebt hatte, diese so arg geängstigt, und sie hat der guten Mama einen so argen Floh darüber ins Ohr gesetzt, daß eine Luftveränderung als durchaus nötig für mich erklärt worden ist. Kurz, es ist mal so! Ich reise mit. Und bemühe mich, der Sache die angenehmste Seite abzugewinnen, da mir doch mal die Qual der Wahl nicht geworden ist.

Auch soll der Aufenthalt in Meersburg um vieles angenehmer sein als der in Eppishausen, schon des einträchtigen, friedlichen Wohnens unter Glaubensgenossen und im Schutze geordneter Gesetze wegen, was man dort so drückend vermißte, und dann ist diesseits des Sees „das Land, was meine Sprache spricht“, was man drüben wahrlich nicht sagen kann, so selbst Menschen aus den gebildeteren Ständen, z. B. die Frauen der dortigen Ärzte und Pfarrer sich einbildeten, wir sprächen englisch, und man also noch vereinzelter steht, wie hierzulande eine französische Familie, die wenigstens überall ihren Glauben und Gottesdienst blühen sieht. Gott bewahre mich vor dem Heimweh; ich habe es das vorige Mal auf eine arge Weise gehabt, indessen werde ich doch keine Viertelstunde allein sein können, ohne daß meine Gedanken in Rüschhaus, Hülshoff, Münster wären; umso mehr, weil ich abreisen muß, ohne irgendwo Abschied nehmen zu können, da die Reise mich schon vor sechs Jahren sehr angriff und, da ich seitdem um vieles immobiler geworden bin, dieses jetzt wohl noch mehr tun wird, weshalb Mama und Jenny darauf bestehn, daß ich mich nicht vorher durch vieles Umherlaufen und Fahren abmatten soll; sie behaupten, es überall für mich gemacht zu haben; damit ist mir aber nicht geholfen, und der nicht genommene Abschied thut mir weit weher als ein wirklicher. (…)

Zu arbeiten denke ich auch drüben fleißig, mein angefangenes Buch über Westfalen zu vollenden und die geistlichen Lieder zu feilen und abzuschreiben. Das Nötige dazu steckt schon tief unten im Koffer, und an Zeit und Ruhe wird es mir nicht fehlen, da Jenny mir auf meine Bitte ein ganz abgelegenes Zimmer in ihrem alten, weiten Schlosse, wo sich doch die wenigen Besucher darin verlieren wie einzelne Fliegen, einräumen will, einen Raum so abgelegen, daß, wie Jenny einmahl hat Fremde darin logieren und abends die Gäste hingeleiten wollte, sie alles in der wüstesten Unordnung und die Mägde weinend in der Küche getroffen hat, die vor Grauen daraus desertiert waren. Ist das nicht ein poetischer Aufenthalt? Wenn ich dort keine Gespenster- und Vorgeschichten schreiben kann, so gelingt es mir nie.

Ich glaube übrigens, auf dieses Werk werden Sie, mein Freund, sehr influieren, d. h. das Andenken an Sie, denn ich freue mich schon jetzt darauf, es Ihnen vorzulesen, und dieses wird mir unter dem Schreiben beständig in Gedanken liegen. Sagen Sie nicht (wie Sie zu tun pflegen), daß ich mich Ihren Ansichten immer heterogen stelle. Das Disputieren und Aufbrodeln ist so eine schlechte, stöckische Manier an mir, und ich habe nachher ganz im stillen oft manches nach Ihrer Angabe verändert. Auch bin ich oft nur so verkehrt, wenn ich, grade mit Hinsicht auf Ihr Urteil, es meine so recht nach Ihrem Geschmacke getroffen zu haben, und es läuft mir dann so elendig kahl ab, daß Sie meinen hoffnungsvollen Sprößling ohne weiteres für einen Schlabünter erklären. Von meinem Westfalen („Bei uns zu Lande auf dem Lande“ ist sein eigentlicher Titel) hoffe ich aber ein erfreulicheres; ist’s doch unser liebes Ländchen, und unser beiderseitiges Hängen an ihm schon ein gar starker Einigungspunkt.

Die Gabe des allerentschlossensten Streichens

An dem bisher Fertigen glaube ich schon manches zu sehn, was guten Fortgang verheißt und nur einen hervorstechenden Fehler, zu große Breite an manchen Stellen; aber dagegen weiß ich Rat, habe ich doch den dritten Gesang meines St. Bernhard gestrichen und von dem ersten fast die Hälfte! Das Streichen und Feilen muß aber erst nach Vollendung des Ganzen geschehen, während der Arbeit macht es mutlos und unterbricht auch die poetische Stimmung zu sehr. Ich werde überhaubt immer zu breit, da mich die momentane Aufgabe jedesmal ganz hinnimmt und mir somit die Gabe fehlt, Nebendinge sogleich als solche zu erkennen und zu behandeln. Als Gegengewicht ist mir jedoch die Gabe des allerentschlossensten Streichens geworden, und ohne dieses würden meinem Pegasus längst Eselsohren gewachsen sein.

Ich wollte, ich säße nur erst am Seeufer und schrieb. Die letzten Tage vor dem Abschiede sind nur eine Körper- und Gemüthsqual, und von einer Reise habe ich nie Freude, da ich leider das Fahren nicht vertrage und schon eine Stunde nach Abfahrt die Sehnsucht nach dem Abendquartier mein fixer Tagesgedanke wird. (…)

References
1 Äquinoktium: Tag- und Nachtgleiche
Schwester Jenny ist im August 1841 mit ihren beiden Töchtern ins Rüschhaus gekommen, um Annette zu einer Reise nach Meersburg abzuholen. Beide organisieren ohne Wissen der Mutter einen gleichzeitigen Aufenthalt Schückings auf der Meersburg - er soll dort als Bibliothekar für Laßberg arbeiten. Am 21. September verlassen die Schwestern Rüschhaus, reisen über Köln, Bonn, Koblenz, Mainz und Mannheim nach Meersburg, wo sie am 30. September eintreffen.
Copyright © 2024 Nach 100 Jahren. All Rights Reserved. |  by John Doe