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Wie schreiblustig bin ich heut‘!

Ihr Brief, mein sehr lieber oder vielmehr mein liebster Freund, ist entweder in nicht angemerkten Zwischenräumen geschrieben, oder er hat, des täglichen Botenverkehrs nicht achtend, auf dem Wege von Ihrem Schreibtische in den meinigen sich noch einige gute und lustige Tage machen wollen, gleich einem streng gehaltenen Schüler, der auch mitunter einen Reisetag aus eigner Machtvollkommenheit zusetzt, wenn ihn die Zuchtrute des Vaters auf den Postwagen geleitet und drüben der Bakel des Magisters winkt. Kurz, in dürrer Prosa, ich habe Ihr vom Sonntage datiertes Schreiben erst heute, am Donnerstage, und zwar soeben, erhalten.

Ach, mein Freund, wie traurig ist’s, wenn man sein Pfund vergraben muß! Wie schreiblustig bin ich heut! Welch eine Masse von Bildern, Gleichnissen, sogar Gedanken, die ich Ihnen nur mit Bedauern vorenthalte, überströmt mich nicht gleich aus den Worten: Papier, Schüler, Postwagen! Mich dünkt, es stehe kein Gedanke so hoch, daß ich ihn nicht jetzt auf dem Postwagen erreichen könnte. Doch gut Ding will Weile, ich aber habe Eile, denn es ist spät, und dieser Brief wandert morgen mit dem frühesten zu Ihnen, um anzufragen, ob sich denn in den nächsten 4-5 Tagen gar keine Einrichtung treffen läßt, die uns noch einige Stunden ruhigen ungestörten Gesprächs brächte.

Die wenigen Wochen bis zu meiner Abreise werden verglitten sein, eh wir’s gedacht; dann folgt ein ganzes Jahr der Trennung, und die Zeiten sind mir längst dahin, wo meine Phantasie, meine Hoffnung, ein Jahr übersprang, wie jetzt kaum eine Woche, wo ich meinen Freunden beym Abschiede zuletzt noch einmahl die Hand reichte als vorläufiges Willkommen zum nächsten Zusammentreffen „übers Jahr im Mai“. Gefühl eigner Schwäche und trübe Erfahrungen an mir teuren Personen haben mich gewitzigt; das ist auch eine Frucht vom Baum der Erkenntnis, und keine der süßen! …

Meine Mutter ist vorgestern nach Hülshoff gegangen, um ein soeben nagelneu angekommenes Enkelchen in Augenschein zu nehmen und ihre Schwiegertochter zu pflegen; dort bleibt sie vorläufig, vielleicht vierzehn Tage und drüber; ich bin zwar noch hier, doch würde man’s übel deuten, blieb ich länger unsichtbar als etwa zu Anfang der nächsten Woche. Nach Münster gehen darf ich in diesen Tagen nicht, da bloß mein Übelbefinden mich noch von jener Tour freigesprochen hat. Können Sie denn gar nicht kommen? …

Es ist jetzt still und lieblich hier, der Garten so voll Blumen, Duft und Nachtigallen, ich bin so ganz allein – eine gute Tafel kann ich Euch nicht geben, aber Ihr sollt doch satt werden. Kommt ja! Ich kann allenfalls meinen Besuch zu Hülshoff bis ziemlich weit in die nächste Woche verschieben; auch gelingt mir’s vielleicht, bald von dort zurückzukehren, was ich wohl wünschte, da außer den Wochen meiner Schwägerin zwei kranke Kinder und der Besuch mehrerer Mitglieder ihrer Familie das Haus sehr unruhig und für meine gegenwärtigen Gesundheitsumstände unpassend machen; im Grunde kann ihnen dort jemand, der, wie ich, zuweilen die Hälfte des Tages zu Bette liegt, und für dessen homöopathisierenden Magen eigens gekocht werden muß, jetzt nur lästig sein; doch weiß ich, daß man sich meiner Abreise mit Hals und Kragen widersetzen wird; denn seit mein Bruder ein höchst glücklicher, umlärmter und umschrieener Familienvater geworden ist, hat er einen unbilligen Haß auf alle Einsiedler geworfen und hält Einsamkeit für das größte aller Erdenübel. Ich nicht – vielmehr habe ich mich ihr in den sieben Jahren, die ich nur hier verklausnert, mit großer Einseitigkeit ergeben. So geht’s, erst aufgeblasen, dann eingeschrumpft, aus der Scylla in die Charybdis; doch ich muß aufhören, denn ich beginne ungerecht zu werden, und zwar gegen einen mir nur allzu werten Gegenstand, gegen mich selbst; dies ist wohl das sicherste Zeichen, daß ich heut mal wieder eine angelaufne Brille trage. …

… der Himmel bewahre mich, daß ich Ihnen je einen Gedanken verberge, d. h. daß ich ihn absichtlich verschlucke, wenn er einmahl auf der Zunge ist. Dies ist der Tod aller Freundschaft. Aber ich bin lange leidend gewesen, und jetzt, seit zwei Tagen, mit einem Male ganz wohl, aber ungemein aufgeregt und nervenschwach und großer Phantasie, Gefühls- und Gedankenanspannung nicht nur fähig, sondern gezwungen dazu; gebe ich mich hin, so treibt’s mich um wie der Strudel ein Boot, oder wie der Wind die Heuflocken treibt; will ich ruhn, so summen und gaukeln die Bilder vor mir wie Mückenschwärme. Wollte ich jetzt dichten, so würde es vielleicht das Beste, was ich zu leisten vermag; indessen besser ist’s, ich mache die Augen zu und versuche zu schlafen. (…)

Der Besuch klappt am Ende doch noch: Christoph Bernhard und Therese Schlüter kommen am 8. Juni 1835 ins Rüschhaus. Bei dieser Gelegenheit präsentiert die Dichterin ihnen einige Werke.
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