Site Overlay

Liebster Papa, vergiß die bewußten Stunden nicht 

Es ist mir sehr betrübt, du armer lieber Papa, daß man dir meinetwegen so viel Unruhe gemacht, da doch gottlob, nichts an der Sache ist, ich befinde mich jetzt sehr wohl, und habe mich auch nur einen einzigen Tag, grade wie die Frau von Korf in Driburg war, übel befunden, ich habe das Ganze weitläufig in Mama’s Briefe geschrieben, und will mich deshalb nicht länger dabey aufhalten, du schreibst mir, ich soll im Oktober herüberkommen, da ich mich aber so durchaus wohl befinde, und die hiesigen Aerzte behaupten, daß grade die Bergluft dasjenige wäre, wovon ich auf die Dauer meine völlige Genesung erwarten müßte, so wollen die Großeltern noch nichts von abreisen hören.

Was mich anbelangt, so thue ich das, was ihr über mich beschließt, auf jeden Fall mit Freuden ich will nicht läugnen, daß ich sehr gern mahl wieder bey euch wäre, aber doch kann ich versichern, daß ich, so oft ich auch an euch denke, doch nicht eigentlich das Heimweh habe, wie die Frau von Korf meinte, freylich bleibt einem das väterliche Haus natürlich immer das liebste, und es ist eine außerordentliche Freude, wenn man in einer fremden Gegend etwas von Hause hört, und so mögen meine vielen und dringenden Fragen nach Allem was Münster anbelangt die Frau v Korf wohl auf diese verkehrte Idee gebracht haben, zudem muß ich sagen, daß, da ich noch fast gar nicht bey den Großeltern habe seyn können, es mir unbillig und auch etwas schämerlich vorkömmt, jetzt wieder fortzugehen ohne den Zweck, weshalb ich eigentlich hergekommen bin, erfüllt zu haben, du mußt nun nicht denken, mein lieber alter Papa, als ob mir irgend ein Ort so lieb seyn könnte wie Hülshoff, aber eben so mußt du auch nicht glauben, als ob ich mich blos durch Rücksichten hier zurück halten ließe.

Ich versichere dich, daß wenn ich nur im mindesten glaubte, daß mein längeres hier bleiben meiner Gesundheit schädlich seyn könnte, ich den vorhergenannten Grund weiter nicht berücksichtigen würde, weil es alsdann doch noch eine nähere Pflicht wäre, für die Erhaltung meiner Gesundheit zu sorgen, ich werde hier zudem so äußerst freundlich und liebevoll behandelt, daß ich nächst Hülshoff hier wohl am liebsten bin.

Doch richte Alles ein, wie du willst, mein liebster Papa, und vergiß, bitte, die bewußten Stunden nicht, ich denke auch immer daran, aber ein paarmahl habe ich es in Driburg versäumt, weil ich schlief, ich habe es aber nachgeholt.

Ich habe zu Driburg manche angenehme Leute kennen gelernt, – die Krone des ganzes Bades war eine Frau von Sthuttnitz, eine Frau von fünf und dreißig Jahren, die aber aussah als wenn sie sechzig alt wäre, weil sie schon seit vielen Jahren ganz CONTRACT von der Gicht ist, sie besitzt einen ganz vorzüglichen Verstand, und nie habe ich bey einer so schmerzhaft leidenden Person so viel beständige und gottergebne Heiterkeit gefunden, sie wohnt in Gotha, und hat mich auch gebethen, ihr zu schreiben, ich werde es auch thun, wenn ihr erlaubt, und ich glaube, daß ihr sie gewiß außerordentlich achtungswerth finden würdet, die Frau von Sierstorpf hat mir außerordentlich viel Güte erwiesen, wie sie sich denn überhaubt, ganz für ihre Gäste aufopfert, sie ist auch jetzt so schwach, daß sie die Weintraubenkur gebrauchen muß, wo sie in sechs Wochen gar nichts wie Weintrauben essen darf, ich habe mir das sehr angenehm gedacht, es soll aber beynahe gar nicht zum ertragen seyn.

Straube ist jetzt auch hier, er wird aber nicht nach Hülshoff kommen, weil er in Göttingen zu viel zu thun hat, – er ist vorgestern hier gekommen, und wird, glaub Ich, morgen wieder fortgehn, der arme Schelm muß sich doch erschrecklich quälen, – August wird aber nach Hülshoff kommen, der Tag ist noch nicht bestimmt, aber ersten Tages.

Lieber Papa die Fräulein Deckens haben mir gesagt, daß bey ihnen im Eichsfelde so viel schöne ORCHIS wüchsen, sie wollen sich von einem kunstverständigen Freunde die Namen der dort wachsenden Sorten aufschreiben lassen, und schicken sie mir alsdann, ich habe auch in Driburg einen Herrn von Knigge kennen lernen, einen Neffen des berühmten Knigge und selbst berühmt, weil er ein sehr geschätztes Werck, Reisen durch Asien, soll heraus gegeben haben, er ist auch lange in Afrika gewesen, und wußte sehr viel interessantes zu erzählen, soll auch ein ausgezeichnet guter Mensch seyn, obschon er eine etwas ungünstige Phisiognomie hat, seine Frau ist eine Russin, spricht aber sehr gut deutsch, man kriegt doch allerhand kuriose Leute zu sehn (…)

Leb wohl, lieber Papa, ich wollte auch noch gerne an Jenny schreiben, grüß doch Wilmsen, und alle Ändern, auch den Pastor, wenn du ihn siehst.

deine gehorsame Tochter
Nette

Die Droste ist am 10. April 1819 zu den Großeltern nach Bökendorf abgereist und unterzieht sich von dort aus von Ende Juni bis Anfang September in Bad Driburg einer Kur wegen Leib- und Magenschmerzen, Übelkeiten, Kopfweh. Nach ihrer Rückkehr nach Bökendorf trifft sie dort auf den ihr zugetanen Heinrich Straube. Die Heimkehr nach Hülshoff wird auf das Frühjahr 1820 verschoben.
Für bestimmte Tageszeiten - die bewussten Stunden - hat Annette offenbar mit ihrer Familie verabredet, aneinander zu denken.
Copyright © 2024 Nach 100 Jahren. All Rights Reserved. |  by John Doe