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Mein ganzes liebes Zusammenleben mit mir selbst

(…) Ich bin auf dem Punkte, nach Hülshoff auszuwandern. Mein guter Bruder will es so und hat recht daran; denn so verführerisch, ich möchte sagen betäubend lieblich mein Klausnerleben auch ist, so ist es doch allerdings nicht geeignet, jemanden, der sehr an den Nerven und noch mehr an Apprehensionen[1]Apprehensionen: Ängsten leidet, wieder zurechtzuhelfen. Also in Gottes Namen!

Ich schicke den „Helmut“ mit vielem Dank zurück; er hat mir viel genutzt; so geschwind er sich von der Sache abmacht; denn mein Wissen war hier wieder gar arges Stückwerk, ohne Ordnung und System, rein Aufgeschnapptes! und es hat mich sehr gefreut, endlich einmahl etwas, wenn auch Kurzes, doch Gründliches darüber zu lesen. Die beiden Lateiner nehme ich mit, ich stecke mitten darin, in Beyden, und sage jetzt kein Wort darüber, nur so viel: Beide haben ihren Werth, aber einer derselben macht mich halb närrisch vor Vergnügen. Was für ein liebes liebes Thierchen von einem Buche! Aber welches, sage ich nicht. Sollten Sie es nicht errathen? Ich kann mir nicht denken, daß wir nicht denselben Geschmack hätten.

Liebster Freund, Sie sehen, wie unmöglich es mir ist, ein Paket an Sie ohne einige Worte herzlichen Grußes abgehn zu lassen, mag meine Zeit auch noch so beschränkt und das Schreiben, wie hier, durchaus unnötig seyn.

Ich schreibe Ihnen, als würden Sie diese Zeilen in einer Stunde lesen, und weiß doch, daß Sie in ihrem verlassenen Zimmer noch 8 — 10 Tage Quarantaine halten und wahrscheinlich mit dem zweyten die Lateiner enthaltenden Pakete zugleich in den Hafen Ihrer Hände einlaufen werden; aber ich wünschte die Bücher vor meiner Abfahrt abzusenden, da in Hülshoff nur wöchentlich einmahl (samstags) regelmäßige Gelegenheit und der Bothe dann oft schwer bepackt oder doch mit Kommissionen überladen ist; und, wie gesagt, ein Paket an Sie ohne ein beschriebenes Blättchen darin kömmt mir wie ein halber Verrath und eine ganze Unmöglichkeit vor. Adieu, liebster bester Freund, meine Rosse stampfen und schnauben.

Ich befürchte einiges Heimweh nach Rüschhaus, es bleibt hier gar Vieles zurück, viel Erinnerungen, viel Träume, mein ganzes liebes Zusammenleben mit mir selbst unter blauem Himmel und Waldesgrün; und dann, was wird aus Thereschens und meinem schönen Zweysiedler-Projekt? und aus dem zweyten Besuche meines Professorchens, auf den ich mich so gefreut? Sie zweifeln wohl nicht, daß, wenn es bey mir gestanden hätte, noch vierzehn Tage zuzusetzen, ich gewiß alle Stricke dazu würde angespannt haben; aber ich habe meinen guten Bruder schon so oft mit Ausflüchten heimgeschickt, daß ich selbst fühlen muß, es gehe nicht mehr ohne wirklich ernstliche Verletzung seiner Liebe und Geduld. Mein Trost ist fortan die fast wöchentliche Fahrgelegenheit nach Münster, wo ich mich denn doch mitunter werde einschmuggeln können.

Adieu, liebster Freund, Allen 1000 Liebes von

Eurer Annette

References
1 Apprehensionen: Ängsten
Mit dem Helmut meint die Droste einen Band über Naturgeschichte von Johann Heinrich Hellmuth, den Schlüter ihr geliehen hat. Annette nutzt die Informationen aus dem Buch, um ihre Muschelsammlung zu ordnen.
Apprehension: Reizbarkeit
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